Dringender Kurswechsel

Die Netto-Null-Mobilität bringt vielschichtige Herausforderungen mit sich. Um sie zu meistern und die CO₂-Emissionen nicht nur zu reduzieren, sondern tatsächlich auf null abzusenken, sind einschneidende Veränderungen nötig. Die Zeit kosmetischer Massnahmen ist vorbei.
Im Jahr 2019 hat der Bundesrat beschlossen, dass die Schweiz bis 2050 klimaneutral sein soll. Das bedeutet, dass wir in knapp 30 Jahren unter dem Strich keine Treibhausgas-Emissionen mehr verursachen dürfen. Nur so lässt sich die globale Klimaerwärmung auf maximal 1,5 Grad Celsius begrenzen. Das Ziel ist also klar.
Verändern heisst vermeiden
Ein Drittel des CO₂-Ausstosses der Schweiz geht auf das Konto des Verkehrs. Die Emissionsreduktion im Verkehrssektor ist also essenziell für die Zielerreichung. Die bisherige Herangehensweise lässt uns nach Alternativen für die aktuellen Mobilitätsgewohnheiten suchen. Doch die Devise muss lauten: Erst vermeiden, dann verlagern und erst an dritter Stelle verbessern. In erster Linie sind Lösungen gefragt, um den Verkehr zu reduzieren respektive gar nicht erst entstehen zu lassen. Zweite Priorität hat die Verlagerung, insbesondere vom motorisierten Individualverkehr auf andere, ressourcenschonende Mobilitätsformen. Denn die Emissionen der privaten Fahrzeuge fallen mit Abstand am meisten ins Gewicht – bislang ohne Aussicht auf Besserung. Erst wenn die Vermeidung und Verlagerung ausgereizt sind, steht die Verbesserung innerhalb der bestehenden Mobilitätsgewohnheiten, wie etwa die Förderung von alternativen Antrieben, im Fokus.
Sinneswandel…
Veränderung geht nicht ohne ein Umdenken. Dabei spielt die Wahrnehmung der Mobilität eine wichtige Rolle. Nicht selten wird Mobilität als Ausdruck von Unabhängigkeit empfunden. Sie ist schliesslich ausgelebte Bewegungsfreiheit. Diese positive Konnotation findet auch regen Eingang in unseren Sprachgebrauch: Wir sprechen von «freie Fahrt» oder «das Steuer in die Hand nehmen». Schöner wäre natürlich, wenn wir in Zukunft selbstverständlich «in die Pedale treten» würden, statt «Gas zu geben». Die gefühlsmässig positive Bewertung von Mobilität erschwert Verhaltensänderungen. Der individuelle Anspruch auf ein eigenes motorisiertes Gefährt ist immer noch sehr stark in der Bevölkerung verankert.
Doch wieso soll jemand von einem Tag auf den anderen vom Auto auf das Velo umsteigen und seine Gewohnheiten ändern? Und wie können Städte und Gemeinden diesen Sinneswandel fördern? Besonders wirkungsvoll sind Impulse, wenn ohnehin eine Veränderung ansteht, beispielsweise bei biografischen Schnittstellen, wie etwa bei einem Umzug oder bei der Geburt eines Kindes. Neuzuzüger:innen oder werdende Eltern, die sich sowieso Gedanken machen müssen, wie sie künftig Distanzen zurücklegen wollen, sind empfänglicher für neue Mobilitätsformen als die alteingesessene Bevölkerung.
…und kurze Wege fördern
Der Umstieg auf das Velo oder Cargobike fällt deutlich leichter, wenn für kleine Erledigungen nicht ans andere Ende der Stadt oder ins übernächste Dorf geradelt werden muss. Die Stadt der Zukunft ist eine Stadt der kurzen Wege. Sie ist ein Ort, in dem die Einwohner:innen ihre Besorgungen problemlos ohne Auto erledigen können und Freizeitangebote nah liegen.
Paris hat sich eine solche Vision vor Kurzem zum Ziel gesetzt: Die französische Hauptstadt will zur «15-Minuten-Stadt» werden. Das heisst, die Bevölkerung soll ohne Auto innerhalb von 15 Minuten alles erreichen können, was sie zum täglichen Leben braucht. Eine drastische Entscheidung, doch um den motorisierten Verkehr zu verringern und schliesslich zu vermeiden, braucht es den Mut, bestehende Muster neu zu denken.
Auf diesen Weg kann sich jede Gemeinde begeben, auch ohne direkte Verkehrsmassnahmen: Mit der Förderung eines nachhaltigen Lebensstils und des lokalen Austauschs hat sie einen grossen Hebel. Stärkt sie etwa das aktive Quartierleben, Sharing-Angebote oder Co-Working-Möglichkeiten, reduzieren sich die Strecken, welche die Einwohner:innen im Alltag zurücklegen müssen.
Hilfsmittel und Leitfäden
Informationsplattformen wie Mobilservice, Mobitool oder Trafikguide bieten eine Übersicht über bestehende Instrumente und Massnahmen. Die Koordinationsstelle für nachhaltige Mobilität (Komo) von EnergieSchweiz unterstützt vorbildliche Projekte und macht sie auf einer Datenbank der breiten Öffentlichkeit zugänglich. Weitere Inspiration liefern die Projekte der Monamo-Gemeinden (Modelle nachhaltige Mobilität in Gemeinden), die als Vorbilder vom Bundesamt für Energie (BFE) unterstützt werden.
Der Trägerverein Energiestadt stellt mit der «Mobilitätsbuchhaltung», welche die Wirksamkeit von Mobilitätsmassnahmen misst, und «MIPA», dem Mobilitätsmanagement in Planungsprozessen von neuen Arealen, sowie dem «Werkzeugkoffer öffentliche Parkierung in Gemeinden» weitere Hilfsmittel zur Verfügung. Auch der Handlungsleitfaden Elektromobilität von EnergieSchweiz kann als Instrument herbeigezogen werden.
Schluss mit Kosmetik
Welche Massnahmen und Instrumente zur Anwendung gelangen, hängt ganz von den gemeindeeigenen Gegebenheiten ab. Entscheidend ist, dass sich nicht nur Energieberater und -expertinnen damit auseinandersetzen. Mobilität ist kein Nischenthema, sie verlangt eine abteilungsübergreifende Zusammenarbeit von Verkehrsplanenden, Beschaffenden, Werkhofverantwortlichen, der Baubewilligungsbehörde und der Liegenschaftsverwaltung. Und nicht zuletzt braucht es gelungene Öffentlichkeitsarbeit, um die Bevölkerung mit ins Boot zu holen. Ein solches Gemeinschaftswerk steigert nicht nur die Wirkung der Massnahmen, sondern stärkt auch die Vorbildfunktion nach aussen.
Die Zeiten der Kosmetik sind vorbei. Es reicht nicht mehr, wenn eine Gemeinde bloss die erfolgversprechendste unter den weniger einschneidenden Massnahmen anpackt oder eine Stadt nur aktiv wird, wo am schnellsten eine mehrheitsfähige Idee umsetzbar erscheint. Es ist Zeit für tiefschürfende Veränderungen, für die grossen Brocken. Optimieren war gestern, heute ist innovieren angesagt.
An der Pusch-Tagung zur Netto-Null-Mobilität im September 2020 haben wir mehrere Gemeindevertreter:innen gefragt, wo ihre Gemeinde in Sachen Netto-Null steht.
Der Artikel ist als Leitartikel im «Thema Umwelt» 4/2020 erschienen.
Titelbild: Pixabay