«Die Spielregeln des Wettbewerbs werden neu definiert»
Verschärfte Sorgfalts- und Berichterstattungspflichten im Thema Nachhaltigkeit stellen Unternehmen vor neue Herausforderungen. Niclas Meyer, Berater für Fragen zu Wirtschaft, Marktregulierung und Governance, erklärt im Interview, wie die global vernetzte Schweiz betroffen ist und warum sich hiesige Firmen jetzt auf diesen Wandel vorbereiten sollten.
Eva-Maria Bauder im Gespräch mit Niclas Meyer
Mittelständische, international tätige Schweizer Unternehmen müssen heute im Einkauf eine Vielzahl von gesetzlichen und regulatorischen Anforderungen beachten. Helfen Sie uns beim Einordnen?
Niclas Meyer: Zunächst hilft es, zwischen Sorgfaltspflichten und Berichterstattungspflichten zu unterscheiden. Eine Sorgfaltspflicht ist im Wesentlichen eine «Bemühenspflicht». Das bedeutet für betroffene Unternehmen, dass sie aktiv daran arbeiten müssen, Risiken für Menschenrechtsverletzungen und Umweltverschmutzung in ihren Lieferketten zu identifizieren und geeignete Massnahmen zu ergreifen, um die erkannten Probleme zu lösen.
Grundlagen der Sorgfaltspflichten
Die «Guiding Principles» der Vereinten Nationen bilden Grundlagen der Sorgfaltspflichten, die eigentlich auf Freiwilligkeit beruhen. Insbesondere nach grossen Unglücken wie etwa Rana Plaza in Bangladesh wurden diese von immer mehr Ländern für ihre Unternehmen rechtlich verbindlich gemacht. So auch in der Schweiz, wo mit dem indirekten Gegenvorschlag zur Konzernverantwortungsinitiative (KVI) die Verordnung über Sorgfaltspflichten und Transparenz bezüglich Mineralien und Metallen aus Konfliktgebieten und Kinderarbeit (VSoTr / OR 964 j-l) per 2022 in Kraft getreten ist.
Mit Sorgfaltspflichten haben wir es beispielsweise bei der Corporate Sustainability Due Diligence Directive (CSDDD), der EU Deforestation Regulation (EUDR) oder den Schweizer Bestimmungen im Obligationenrecht (OR) zu Kinderarbeit und Konfliktmineralien zu tun (siehe Glossar am Ende des Artikels). Wir kennen Sorgfaltspflichten schon lange, beispielsweise aus der Geldwäscheprävention und vielen anderen Bereichen. Manchmal gelingt die Einhaltung der Sorgfaltspflicht nicht, beispielsweise aus länderspezifischen, strukturellen Gründen. Dann bliebe in letzter Konsequenz nur noch, die Handelsbeziehung aufzulösen.
«Wir erwarten, dass Schweizer KMU punkto Sorgfaltspflichten zunehmend unter Zugzwang geraten.»
– Niclas Meyer, Senior Berater, BSS Volkswirtschaftliche Beratung AG
Und was ist im Gegenzug dazu die Berichterstattungspflicht?
Berichterstattungspflicht bedeutet, Transparenz über nicht-finanzielle Aspekte schaffen zu müssen. Einfach ausgedrückt, muss ein Unternehmen Rechenschaft über Umwelt- und Sozialbelange ablegen. Diese Transparenz soll besonders gegenüber dem Finanzmarkt, also für Investor:innen, geschaffen werden, die ihr Kapital in nachhaltig arbeitende Unternehmen lenken möchten. Die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) ist zum Beispiel im Kern eine Berichterstattungspflicht, aber auch im OR gibt es Berichterstattungspflichten (OR 964 a-c).
Welche Sorgfalts- und Berichterstattungspflichten gelten für mich als kleines oder mittelgrosses Schweizer Unternehmen?
Formal-juristisch fallen KMU, mit wenigen Ausnahmen, kaum in den direkten Geltungsbereich der Schweizer Gesetzgebung oder jener der EU. Jedoch haben sie Kund:innen, die direkt betroffen sind. Und damit diese ihren Sorgfalts- und Berichterstattungspflichten nachkommen können, müssen sie Nachhaltigkeitsdaten bei ihren Zuliefernden einholen. Sorgfaltspflichten werden also weitergereicht. Aus diversen Gesprächen mit KMU wissen wir, dass viele von ihnen aktuell mit Nachfragen nach Supplier Code of Conducts überhäuft werden. Schweizer KMU sind damit indirekt von den Sorgfalts- und Berichterstattungspflichten betroffen.
Zur Person
Niclas Meyer ist Senior Berater bei der BSS Volkswirtschaftliche Beratung AG und beschäftigt sich schwerpunktmässig mit Fragen der Digitalisierung, Wissenschafts-, Technologie- und Innovationspolitik sowie Marktregulierung und Governance. Im November 2023 publizierte BSS unter Meyers Leitung die Studie «Auswirkungen der CSDDD auf Schweizer Unternehmen, Standortattraktivität und Wettbewerb».
Wo gibt es diese wenigen Ausnahmen?
Die OR-Bestimmungen zu Konfliktmineralien gelten auch für KMU. Dort gelten Mengen- statt Grössenschwellen. Wenn ich beispielsweise als Juwelier eine bestimmte Menge Gold importiere, kann ich betroffen sein, auch wenn ich nur drei Mitarbeitende habe.
Wenn die CSRD im Schweizer Recht nachvollzogen wird (derzeit läuft eine Vernehmlassung) gäbe es weitere Konstellationen, in denen KMU direkt betroffen wären. Gemäss CSRD sind börsenkotierte KMU ab 50 Beschäftigten berichtspflichtig. Zudem wären KMU mit weniger als 250 Beschäftigten ebenfalls berichtspflichtig, wenn sie einen Umsatz von mehr als 50 Millionen Franken erzielen und mehr als 25 Millionen Franken auf der Bilanz haben. Unsere Studienergebnisse deuten darauf hin, dass dies auf rund 2000 KMU zutreffen könnte.
Die EU, aber auch andere Länder, erlassen derzeit diverse Gesetze, die die ökologische oder soziale Nachhaltigkeit betreffen. Die Schweiz passt jedoch die eigene Gesetzgebung nicht immer der europäischen an.
Letztlich ist es eine politische Frage, inwieweit sich die Schweiz an Gesetzgebungen im Ausland anpasst. Man muss aber auch klar sagen, dass der Handlungsspielraum extrem klein ist. Die meisten Unternehmen sind sowieso betroffen, unabhängig davon, wie der Schweizer Gesetzgeber entscheidet. Denn für Schweizer Unternehmen zählt, welche Nachweise oder Daten die Geschäftspartner:innen im In- und Ausland von den Zuliefernden verlangen.
Der Druck steigt also indirekt?
Richtig, dies ist vom Gesetzgeber genauso gewollt – das muss man klar sagen. Auch wenn immer davon gesprochen wird, dass KMU vor zu viel Bürokratie zu schützen sind. Die Grundidee dieser Gesetze ist, dass man rechtliche Pflichten für die grössten Unternehmen definiert. Diese werden dann in Vertragskaskaden an alle Zuliefer:innen – und damit auch an die KMU – durchgereicht. Zudem ist die Schweizer Volkswirtschaft global stark vernetzt und eng mit der EU verflochten. Deshalb sind sehr viele von den Sorgfalts- und Berichterstattungspflichten der EU betroffen (CSDDD und CSRD). Genau darum erwarten wir, dass KMU punkto Sorgfaltspflichten vermehrt unter Zugzwang geraten.
«Wir empfehlen den KMU, sich nach jenem Standard zu richten, den die Geschäftspartner:innen anwenden.»
– Niclas Meyer, Senior Berater
Auf welche Regelungen müssen wir uns nächstens einlassen?
Beispielsweise nächstes Jahr, also 2025, tritt die European Union Deforestation Regulation (EUDR) in Kraft – die EU-Verordnung über entwaldungsfreie Lieferketten. Davon werden nicht nur holzverarbeitende Unternehmen, sondern eine ganze Reihe anderer Akteur:innen betroffen sein (siehe Glossar am Ende des Artikels). Zudem sind viele Unternehmen mit der Taxonomie-Verordnung konfrontiert, mit dem Carbon Border Adjustment Mechanism (CBAM) und vielen sektoralen Regulierungen. Da kommt viel auf einmal, auch wenn gewisse Gesetze gestaffelt in Kraft treten. Und wir stehen erst am Anfang dieser Entwicklung.
Bei der Berichterstattung sind die Standards wichtig. Was müssen Unternehmen hier beachten?
Bei der CSRD muss nach den European Sustainability Reporting Standards (ESRS) berichtet werden und gemäss OR-Bestimmungen nach Task Force on Climate-related Financial Disclosures (TCFD). Es gibt aber noch viele andere Standards wie GRI, IFRS, SASB oder Swiss GAAP Fer. Hier den Durchblick zu bewahren, ist eine Herausforderung. Dass viele der ESRS-Standards noch nicht veröffentlicht sind, macht es nicht leichter. Es ist aber davon auszugehen, dass sich dieser mittelfristig durchsetzen wird, da er von der EU vorgeschrieben wird. Der Standard umfasst etwa 1200 Datenpunkte, die – wenigstens teilweise – von Liererant:innen bereitgestellt werden müssen. Wir empfehlen KMU, sich nach jenem Standard zu richten, den die Kund:innen oder Investor:innen anwenden. Leider sind es häufig mehrere Standards und diese sind wiederum nicht immer miteinander kompatibel.
«Es gilt, bereit zu sein. Das sollte heute das Ziel für jedes Schweizer KMU sein.»
– Niclas Meyer, Senior Berater
Welche ersten Schritte würden Sie insbesondere KMU empfehlen, die eine Nachhaltigkeitsprüfung ihrer Lieferketten vornehmen wollen?
Zunächst sollten sich Firmen mit den neuen gesetzlichen Anforderungen auseinandersetzen und prüfen, ob sie selbst überhaupt formal-juristisch zu Sorgfalt und Berichterstattung verpflichtet sind. Dann ist es wichtig zu verstehen, welche der grössten oder wichtigsten Geschäftspartner:innen in den Geltungsbereich von Sorgfalts- und Berichterstattungspflichten fallen. Welche Verantwortung und Transparenz verlangen diese konkret von Lieferant:innen? Ein offenes Gespräch bringt Klarheit über die Erwartungen.
Wenn dann beispielsweise ein Code of Conduct vorgelegt wird oder Verträge unterzeichnet werden sollen, die im Zusammenhang mit Sorgfaltspflichten stehen, ist es ratsam, diese von der Rechtsabteilung oder einer juristischen Person prüfen zu lassen. Bestenfalls stehen da auch die Branchenverbände zur Seite.
Erster Schritt mit dem CSR Risiko Check
Der CSR Risiko Check unterstützt insbesondere Schweizer KMU, die im Ausland tätig sind (z.B. Import, Export, Produktion) dabei, ihre sozialen, ökologischen und Governance-Risiken in der Lieferkette zu bewerten. Der Check ist ein Pilotprojekt des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) und zurzeit nur auf Deutsch verfügbar.
Bringen Datenerhebungs-Tools die Lösung?
Ich wäre vorsichtig, einfach eine technologische Lösung, also eine Datenerhebungs-Software einzukaufen, bevor ich nicht mein Stakeholder-Mapping gemacht habe. In Bezug auf Beschaffung muss ich insbesondere wissen, welche Anforderungen meine Kund:innen tatsächlich an mich stellen oder worauf meine Investor:innen achten. Und dann würde ich eine Lieferkettenanalyse durchführen, um die wesentlichen Nachhaltigkeitsrisiken zu kennen. Es gilt, bereit zu sein! Das sollte heute das Ziel für jedes Schweizer KMU sein. Denn es ist anzunehmen, dass Partner:innen irgendwann anklopfen und Lieferketten-Nachweise und Nachhaltigkeitsdaten verlangen.
Die zunehmende Regulierung scheint für Firmen vor allem eine Bürde zu sein. Ist es auch eine Chance?
Persönlich glaube ich, dass es sich hier um einen Transformationsprozess handelt, der möglicherweise so tiefgreifend wie die Digitalisierung sein kann. Die Spielregeln des Wettbewerbs werden neu definiert. Es könnte gut sein, dass einige Unternehmen nicht Schritt halten können oder wollen – und so aus dem Markt gedrängt werden. Ich sehe hier zunächst Herausforderungen.
Aber ja, natürlich gibt es Chancen für Unternehmen. Wer seine Lieferketten durch die Sorgfaltsprüfung kennt, kann Risiken frühzeitig identifizieren und minimieren. Unternehmen, die klare Nachhaltigkeitsziele verfolgen und auf Transparenz setzen, dürften künftig vermehrt von Kund:innen, Investor:innen oder Geschäftspartner:innen bevorzugt werden. Womöglich verschafft es einem Unternehmen auch Zugang zu ganz neuen Märkten oder Kundensegmenten. Und letztlich kommen nachhaltige Geschäftspraktiken der Umwelt sowie uns als Gesellschaft zugute.
Glossar: Was bedeuten CSDDD, VSoTr & Co.?
Die nachfolgende Auflistung hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie dient der Orientierung in Bezug auf die wichtigsten Regelwerke in der Schweiz und der EU. Wir empfehlen Unternehmen dringend, juristisch prüfen zu lassen, ob sie in den gesetzlichen Geltungsbereich fallen und welche Pflichten daraus resultieren.
OR 964 a-c, j-l | Sorgfalts- und Berichterstattungspflichten über nicht-finanzielle Belange
Die Schweizer Gesetzgebung, seit 1. Januar 2022 in Kraft, als indirekter Gegenvorschlag zur Konzernverantwortungsinitiative, umfasst Umweltbelange, Sozialbelange, Arbeitnehmerbelange, die Achtung der Menschenrechte sowie Korruptionsbekämpfung.
Die Berichterstattungspflicht gilt für Schweizer Unternehmen von öffentlichem Interesse (börsenkotiert oder Bank/ Versicherung), ab 500 Beschäftigten und einer Bilanzsumme von CHF 20 Millionen oder einem Umsatz über CHF 40 Millionen.
Die Sorgfaltspflichten betreffen Schweizer Unternehmen, die mit Mineralien oder Metallen wie Zinn, Tantal, Wolfram oder Gold aus Konflikt- und Hochrisikogebieten arbeiten oder Firmen, in deren Lieferketten ein begründeter Verdacht auf Kinderarbeit besteht. Relevant sind die importierten Mengen, nicht die Unternehmensgrösse. Beim Thema Kinderarbeit sind KMU mit weniger als 250 Beschäftigten ausgenommen.
VSoTr | Verordnung über Sorgfaltspflichten und Transparenz
Die VSoTr konkretisiert die Pflichten zu Sorgfalt und Transparenz in Bezug auf Mineralien und Metalle aus Konfliktgebieten sowie Kinderarbeit, die im OR definiert sind.
CSDDD | Corporate Sustainability Due Diligence Directive
EU-Gesetzgebung, seit 25. Juli 2024 in Kraft; EU-Mitgliedstaaten haben zwei Jahre Zeit, die Gesetzgebung in nationales Recht umzusetzen. Die CSDDD auferlegt den betroffenen Unternehmen Sorgfaltspflichten in Bezug auf Umweltschutz und Menschenrechte entlang ihrer gesamten Wertschöpfungskette.
Geltungsbereich: EU-Unternehmen mit mindestens 1000 Beschäftigten und einem weltweiten Jahresumsatz von mehr als EUR 450 Mio. bzw. Nicht-EU-Firmen mit mindestens EUR 450 Mio. in der EU generiertem Umsatz.
Siehe auch: Studie «Auswirkungen der CSDDD auf Schweizer Unternehmen, Standortattraktivität und Wettbewerb» im Auftrag des SECO.
CSRD | Corporate Sustainability Reporting Directive
EU-Richtlinie, seit Januar 2024 in Kraft, regelt die Pflichten im Zusammenhang mit der Nachhaltigkeitsberichterstattung.
Geltungsbereich: EU-Unternehmen, wird schrittweise bis 2029 auf immer mehr Unternehmen, auch ausserhalb der EU (aber mit starkem EU-Bezug) ausgeweitet.
Siehe auch: Regulierungsfolgenabschätzung bei CSRD-Nachvollzug (Bericht als PDF)
ESRS | European Sustainability Reporting Standards
Dieser Reporting-Standard regelt die inhaltlichen Details der Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen der EU. Der Standard ist kompatibel mit den Global Reporting Initiative (GRI) Standards, den Sustainability Accounting Standards Board (SASB) Standards und den Task Force on Climate-related Financial Disclosures (TCFD) Empfehlungen.
EUDR | EU Deforestation Regulation
EU-Verordnung über entwaldungsfreie Lieferketten, tritt in der EU ab Januar 2025 in Kraft. Die EUDR betrifft Kakao, Kaffee, Palmöl, Kautschuk, Rinder, Soja und Holz sowie daraus hergestellte Erzeugnisse wie Schokolade, Kaffeekapseln, Möbel, Papier oder Autoreifen. Auch hierzu hat der Bund eine Studie in Auftrag gegeben, die voraussichtlich 2025 veröffentlicht wird.