«Auf Ruderalflächen blüht das Leben»

Es braucht nicht viel, um einen grossen Unterschied zu machen: Kleinstrukturen und Ruderalflächen sind unkompliziert anzulegen, fördern die Natur direkt vor der Haustüre und steigern gleichzeitig die Lebensqualität der Bevölkerung. Julia Wildi von der Schweizerischen Vogelwarte erklärt im Interview, worauf es ankommt und wie Gemeinden rasch erste Erfolge erzielen können.
Frau Wildi, was versteht man unter Kleinstrukturen und Ruderalflächen – und warum sind sie für die Biodiversität so wichtig?
Julia Wildi: Ruderalflächen sind locker bewachsene, blütenreiche Standorte auf kiesigen Böden mit wenig Erde. Früher typisch für Flussufer oder Geröllhalden sind sie heute selten geworden und finden sich vor allem auf urbanen Brachflächen oder in der Nähe von Baustellen. Sie bieten zahlreichen Insekten und Vögeln einen Lebensraum, darunter auch seltenen Arten.
Kleinstrukturen hingegen sind vom Menschen geschaffene Rückzugsorte wie Ast- oder Steinhaufen. Früher entstanden sie durch das menschliche Bedürfnis, Ordnung zu schaffen. Material wurde vor Ort in Haufen gelagert. Heute, wegen immer leistungsfähigeren Maschinen, wird es lieber entfernt, um Grünflächen so «sauber» wie möglich zu halten. Dabei bieten Kleinstrukturen vielen Tieren wichtigen Lebensraum.
Welche Tier- und Pflanzenarten profitieren besonders davon?
Es sind viel zu viele, um sie alle aufzuzählen! Pionierpflanzen, die sich als erste auf offenem Boden ansiedeln, bilden die Grundlage für Ruderalflächen. Ihre Blüten ziehen zahlreiche Insekten wie Schmetterlinge an, und ihre Samen dienen Vögeln wie Stieglitz oder Grünfink als Nahrung. Kleinstrukturen ergänzen diese Speisekammer perfekt, indem sie als Unterschlupf dienen. Welche Arten davon profitieren, hängt von der Struktur ab. Asthaufen sind Rückzugsorte für Säugetiere wie Igel oder Mauswiesel und Insekten wie Wildbienen, Steinhaufen für Reptilien und Amphibien.
Kleinstrukturen wie Asthaufen, Benjeshecken, Trockensteinmauern und Steinhaufen sind wichtige Unterschlüpfe für viele Tiere. Bild: Vogelwarte
Wie tragen Kleinstrukturen zur Vernetzung von Lebensräumen bei?
Kleinstrukturen sind wichtige Nist- oder Ruheplätze für zahlreiche Arten. Sie sind deshalb wesentliche Elemente in einem Netzwerk miteinander verbundener, natürlicher oder naturnaher Lebensräume und ergänzen grössere Habitate.

«Ruderalflächen und Kleinstrukturen sind pflegeleicht.»
– Julia Wildi, Schweizerische Vogelwarte
Welchen Nutzen haben solche Flächen für die Bevölkerung?
Ruderalflächen widersprechen der Schweizer Ordnungsliebe, was negative Reaktionen hervorrufen kann. Doch sie bieten ein reichhaltiges Naturerlebnis. Wenn man sich die Zeit nimmt, sie genauer zu betrachten, stellt man schnell fest, dass sie auch lange nach der Blütezeit der Wiesen noch in allen möglichen Farben leuchten. Schmetterlinge, Hummeln oder farbige Vögel wie Grünfink und Stieglitz bereichern das Bild zusätzlich und machen die Natur direkt vor der Haustür erlebbar.
Wie aufwendig sind Anlage und Pflege?
Im Vergleich zu anderen Massnahmen sind Ruderalflächen und Kleinstrukturen ganz pflegeleicht. Ruderalvegetation wächst langsam, sodass ein jährliches Mähen ausreicht. Bei Kleinstrukturen muss lediglich darauf geachtet werden, dass sie nicht von Vegetation überwuchert werden. Asthaufen müssen regelmässig aufgefüllt werden, was sich aber leicht im Rahmen des jährlichen Heckenschnitts erledigen lässt.
Ruderalflächen leuchten oft noch bunt, wenn Blumenwiesen schon verblüht sind.
Wie können Gemeinden mit wenig Aufwand erste Schritte machen – was sind einfache Startprojekte?
Die einfachste Massnahme ist das Anlegen von Asthaufen. Wichtig sind einzig ein passender Standort mit genügend Blumen in der Nähe und – wenn möglich – etwas Abstand zu stark befahrenen Strassen. Besonders in Parks bieten sich solche Strukturen an.
Ein weiterer Tipp: Werden in der Gemeinde Flächen entsiegelt, lassen sich diese leicht zu Ruderalflächen umfunktionieren. Diese nährstoffarmen Standorte eignen sich hervorragend, um wertvolle Lebensräume entstehen zu lassen.
Welche typischen Fehler sollten Gemeinden vermeiden?
Schottergärten sehen auf den ersten Blick ähnlich aus wie Ruderalflächen, schaden aber der Biodiversität. In Schottergärten gibt es fast nur Steine und fast keine Pflanzen. Und wenn es Pflanzen gibt, dann meist keine einheimischen Arten und kaum Blumen. Auf Ruderalflächen hingegen blüht das Leben und es summt und brummt. Es braucht aber ein Management für invasive Neophyten. Diese gebietsfremden Arten breiten sich schnell aus und überwuchern ganze Flächen. Kleinstrukturen sollten nicht isoliert stehen, sondern Teil eines vielfältigen, naturnahen Umfelds sein und vor Störungen durch Strassenverkehr geschützt werden.

«Mit ein wenig Pragmatismus lässt sich die Anlage von Ruderalflächen und Kleinstrukturen leicht in die laufende Pflege der Grünflächen einer Gemeinde integrieren.»
– Julia Wildi, Schweizerische Vogelwarte
Braucht es spezielles Fachwissen oder können auch Gemeindemitarbeitende ohne grosses Vorwissen solche Flächen erfolgreich anlegen?
Es gibt zahlreiche Bücher und Online-Ressourcen, die Infos zur Erstellung und Pflege liefern. Idealerweise lässt man sich von Expert:innen beraten. Es gibt Umweltplanungsbüros oder selbstständige Biolog:innen, die Beratungen anbieten und bei der Planung der Umsetzung dieser Strukturen helfen können. Der Pusch-Kurs zum Thema Ruderalflächen und Kleinstrukturen, der 2025 zum ersten Mal stattgefunden hat, ist ebenfalls eine hervorragende Möglichkeit, sich zum Thema weiterzubilden.
Gemeindeflächen unter der Lupe – mit der Impulsberatung Biodiversität
Mit einer Impulsberatung unterstützt Pusch Sie dabei, die Biodiversität in Ihrer Gemeinde nachhaltig zu fördern – direkt bei Ihnen vor Ort. Biodiversitäts-Expert:innen von Pusch nehmen gemeinsam mit Ihnen ausgewählte lokale Grünflächen unter die Lupe, erkennen Potenziale zur ökologischen Aufwertung und planen nächste Schritte – praxisnah und umsetzbar.
Wie können Gemeinden solche Projekte in ihre bestehende Grünflächenpflege integrieren?
Mit ein wenig Pragmatismus lässt sich die Anlage von Ruderalflächen und Kleinstrukturen leicht in die laufende Pflege der Grünflächen einer Gemeinde integrieren. So kann beispielsweise eine Ruderalfläche an schwer zugänglichen Stellen angelegt werden, um die Häufigkeit der Pflege zu verringern und gleichzeitig zu vermeiden, dass diese Flächen zubetoniert werden. Asthaufen können beim Beschneiden von Bäumen oder Hecken angelegt und aufgefüllt werden. Wenn beim Bau eines neuen Gebäudes Steine ausgehoben werden, können diese zu Trockenmauern aufgeschichtet werden. Es gibt zahlreiche Synergien, die genutzt werden können, und wenn Gemeinden Unterstützung bei der Integration der Planung solcher Massnahmen in ihren Pflegeplan benötigen, können sie sich jederzeit beraten lassen.
Warum lohnt es sich, jetzt aktiv zu werden?
Wir befinden uns mitten in einer Biodiversitätskrise, und die Schweiz schneidet in diesem Bereich im internationalen Vergleich schlecht ab: Zwei von fünf Vogelarten stehen auf der Roten Liste, um nur ein Beispiel zu nennen. Um diese Arten zu fördern, braucht es grosse, zusammenhängende Lebensräume, eine naturfreundliche Landwirtschaft und Naturschutzgebiete. Aber auch im Siedlungsraum sind naturnahe Gebiete wichtig: Sie leisten einen Beitrag für die Biodiversität, sorgen für saubere Luft, sauberes Wasser und glücklichere Menschen. In naturnahen Siedlungsgebieten können Menschen Naturerlebnisse direkt vor der Haustür machen, was wiederum eine Grundlage für ein umfassendes Naturschutzwissen und -engagement ist. Angesichts der aktuellen Bestrebungen zur Verdichtung der Städte ist es dringend notwendig, den Erhalt der Biodiversität zu einer Priorität zu machen und entsprechende Massnahmen zu planen, bevor es zu spät ist.
Am Pusch-Kurs «Ruderalflächen und Kleinstrukturen anlegen und pflegen» packten Praktiker:innen und Planer:innen aus Gemeinden gemeinsam an und erstellten Unkenwannen und Totholzstrukturen.
