Gemeinde
Biodiversität
Fachartikel

«Wir müssen das Potenzial des Abstandsgrüns aufzeigen und ihm einen Wert geben»

Nadine Siegle
Daniel Baur
Eine grosse ungenutzte Wiese mitten in einem Wohnquartier, umgeben von Wohnblöcken.

·

8 Minuten Lesezeit

Biodiversität

Fachartikel

Der Siedlungsraum ist voller Flächen mit Potenzial. Doch das sogenannte Abstandsgrün erhält noch zu wenig Aufmerksamkeit, findet Daniel Baur, Professor für Landschaftsarchitektur. Im Interview fordert er ein starkes Umdenken im Städtebau und rechnet vor, wie viel Potenzial – klimatisch, aber auch finanziell – in den ungenutzten Freiflächen schlummert.

Nadine Siegle im Gespräch mit Daniel Baur 

Im Projekt «Nachbarsgärten» haben Sie das Potenzial von sogenanntem Abstandsgrün aufgezeigt. Worum geht es dabei?

Im Rahmen eines Auftrags der Stadt Bern wurde einmal mehr deutlich, dass die Stadt zwar über Freiräume verfügt, diese aber stark funktional belegt sind. Dem gegenüber gäbe es aber im Siedlungsraum viele grüne Flächen, die nicht oder kaum genutzt sind. Deshalb wollten wir uns das im Projekt «Nachbarsgärten» genauer anschauen und konzentrierten uns dafür auf die Berner Stadtteile Stöckacker, Bethlehem und Bümpliz. Wir haben einen Praktikanten mit dem Velo losgeschickt, um die Freiflächen, die man aufwerten könnte, aufzunehmen. Dabei kamen wir auf total 42,5 Hektaren. Das entspricht der Fläche von zwei durchschnittlich grossen Schweizer Bauernhöfen. Diesen Flächen wollten wir mehr Aufmerksamkeit geben und ein Bewusstsein dafür schaffen, wie viel Potenzial im Abstandsgrün schlummert.

Zur Person

Daniel Baur ist Inhaber des Büros Bryum Landschaftsarchitekten. Ausserdem ist er als Professor für Landschaftsarchitektur an der Berner Fachhochschule (BFH AHB) tätig.

Das Wort «Abstandsgrün» tönt eher nach etwas Nebensächlichem. Ihre Berechnungen sprechen aber eine andere Sprache. Wie kommt das?

Das Abstandsgrün resultiert aus den raumplanerischen Regeln und unserem heutigen Verständnis des Bauens. Wer baut, versucht so viel Gebäudefläche wie möglich auf seiner Parzelle unterzukriegen. Die Gesamtstruktur unserer Lebenswelt bleibt meist unbeachtet. Mit dieser Betrachtungsweise und den bestehenden Abstandsvorgaben kann aus dem, was rund um die Nutzungsflächen übrigbleibt, nur wenig Sinnvolles entstehen. Und so entstehen die grossen Flächen an ungenutztem Abstandsgrün. Für übergeordnete Themen wie das Klima oder Soziales sind die Parzellengrenzen aber nicht relevant.

Sie fordern ein Umdenken. Wie gelingt das?

Indem wir das Potenzial des Abstandsgrüns aufzeigen und dem Freiraum einen Wert geben. Das haben wir im Rahmen des Projekts «Nachbarsgärten» versucht. Wir haben die Kernthemen von Raumplanung und Klimaentwicklung aufgegriffen und in Zahlen aufgezeigt, was alles möglich wäre, wenn man diese Freiflächen anders nutzen würde. Zum Beispiel sprechen wir mit den Berechnungen das Thema Ernährungsfähigkeit in der Schweiz an: Wir können unseren jährlichen Nahrungsmittelbedarf nur zur Hälfte in der Schweiz produzieren. Den Rest importieren wir. Wenn wir die Fläche von 425‘000 Quadratmetern, die wir für die drei Berner Stadtteile errechnen konnten, stattdessen landwirtschaftlich nutzen würden, könnten wir darauf etwa 165 Tonnen Weizen oder 1140 Tonnen Kartoffeln produzieren. Diese Menge an Kartoffeln könnte den durchschnittlichen Jahresverbrauch von 24‘300 Menschen decken.

Welches Potenzial konnten Sie zur klimatischen Wirkung berechnen?

Auf den 425‘000 Quadratmetern könnte man 10‘600 Bäume pflanzen. Diese könnten die Umgebungstemperatur im Vergleich zur städtischen Umgebung um bis zu 3 bis 4 Grad senken und jährlich 530 Tonnen CO2 aufnehmen. Das entspricht dem durchschnittlichen Jahresverbrauch von 38 Personen in der Schweiz. Hinzu kommt das Potenzial für die Siedlungsbiodiversität: Würden wir auf diesen Flächen Wildblumenwiesen und Biotope anlegen oder vielfältige Hecken pflanzen, könnte Lebensraum für beispielsweise bis zu 42 Bienenvölker entstehen. Die Pflanzenvielfalt auf Grünflächen könnte von heute 6 Gräserarten im Rasen auf 100 bis 150 verschiedene Blumen-, Kräuter- und Gräserarten in der Wiese erhöht werden. Es zeigt sich je länger, je mehr, dass die Stadt nicht die böse Vertreiberin der Natur ist, im Gegenteil.

Neben dem Potenzial für Ernährung, Klimaanpassung und Biodiversität haben Sie auch die sozialräumliche Funktion des Abstandsgrüns untersucht. Was haben Sie dazu herausgefunden?

Heute schafft es das Abstandsgrün nicht, die Begegnungsräume zu schaffen, die wir in unseren Siedlungen brauchen. Es ist nämlich so eine Sache mit Flächen: Nur weil eine Freifläche, wie zum Beispiel eine kleine Wiese am Eingang einer Wohnsiedlung, den entsprechenden Platz bietet, bedeutet das noch lange nicht, dass sie die Bedürfnisse und Funktionen abdeckt, die sie müsste. Häufig führt die Unspezifität eines Freiraums, der etlichen Ansprüchen genügen müsste, zu einer «Non-Funktion». Er wird stattdessen also gar nicht genutzt.

Mit diesen Argumenten tönt das alles sehr überzeugend. Wieso werden die bestehenden Abstandsgrünflächen denn nicht allesamt aufgewertet und umgenutzt? Was spricht dagegen?

Das Abstandsgrün ist leider immer noch zu günstig. Es tut noch nicht genug weh, um wirklich etwas zu ändern. Und das, obwohl wir errechnet haben, dass in den drei Berner Stadtteilen total 4.3 Millionen Franken Unterhaltskosten pro Jahr für den Unterhalt dieser ungenutzten Flächen anfällt. Die 24,5 Hektaren müssen ja regelmässig gepflegt werden. Das heisst, irgendjemand bezahlt dafür, um das Abstandsgrün zu bewirtschaften. Das Problem bei der Umgestaltung ist aber, dass die heutigen Unterhaltskosten zwar wegfallen, dafür aber Kosten für etwas Neues anfallen würden. Deshalb möchten wir Businessmodelle aufzeigen, die mit einer Veränderung einhergehen könnten, etwa für Jungunternehmen, welche diese Flächen landwirtschaftlich bewirtschaften. Die Siedlungseigentümer:innen sind aufgefordert, in anderen Wegen zu denken. Denn klar ist: Wenn es für sie ein Nullsummenspiel ist, ihre Flächen neu zu denken und umzugestalten, dann werden sie es nicht wagen, etwas Neues auszuprobieren.

Sie sprechen von privaten Flächen und davon, dass die Eigentümer:innen der Überbauungen ihre Flächen überdenken sollen. Richten Sie Ihren Appell hauptsächlich an private Akteur:innen, die sanieren oder neu bauen?

Nicht nur. Ich bin davon überzeugt, dass schon junge Menschen diese Perspektive lernen sollten. Deshalb bin ich in der Lehre tätig. Denn gerade auch die Planer:innen haben einen grossen Hebel. Sie können Gesellschaftsfragen aufnehmen und Verantwortung übernehmen, indem sie Projektvorgaben hinterfragen und innovative Lösungen im Sinne der Gesellschaftsherausforderungen umsetzen. Und auch die Verwaltungen haben eine wichtige Aufgabe. Sie müssen den Mut haben, sich mit diesen Themen aufgrund der klimatischen Veränderungen und den Auswirkungen auf die Lebensqualität in ihrer Gemeinde auseinanderzusetzen. Gemeinden müssen lernen zu hinterfragen, ob ihre bekannten Strategien noch zielführend sind. Dies braucht Mut, denn einen anderen Weg zu beschreiten, birgt neben den Chancen auch Unsicherheiten. Es gibt bereits gute Beispiele dafür, aber noch nicht viele.

Daniel Baur, Inhaber des Büros Bryum Landschaftsarchitekten.

«Wir sollten ein Verständnis dafür entwickeln, dass alle Teil der Lösung sein müssen.»

Daniel Baur, Landschaftsarchitekt

Was raten Sie Vertreter:innen von Städten und Gemeinden sonst noch?

Ich rate dazu, dem Freiraum mehr Wichtigkeit einzuräumen, und zu mehr Offenheit gegenüber neuen Strategien der ortsbaulichen Entwicklung. Die Gemeinde Hochwald im Kanton Solothurn hat uns beispielsweise in die Zentrumsentwicklung einbezogen. Zunächst haben uns die Verantwortlichen einen Anforderungskatalog mit Bedürfnissen mitgegeben, der in dieser Fülle kaum umsetzbar war. Wir mussten erst einmal gemeinsam über das Vorgehen und die unterschiedlichen Bedürfnisse sprechen und haben uns entschieden, direkt auf die Anwohner:innen zuzugehen. Wir haben einen Tag im Dorfzentrum verbracht und mit den Einwohner:innen gesprochen. Dabei konnten wir ganzheitliche Interventionen ermitteln, welche nicht nur die gebaute Umwelt, sondern auch Massnahmen zur Förderung des Lebensraums ermitteln. Gleichzeitig müssen wir aber auch das Bewusstsein schaffen, dass wir alle unseren Beitrag zum Erhalt der Lebensqualität leisten müssen. Denn die Gemeinde kann nicht alle Bedürfnisse erfüllen und schon gar nicht die klimatischen Herausforderungen alleine lösen.

Wie meinen Sie das? Was können die Anwohner:innen zur Dorfentwicklung beitragen?

Wir sollten ein Verständnis dafür entwickeln, dass alle Teil der Lösung sein müssen. Anwohner:innen können zum Beispiel einen sozialräumlichen oder klimatischen Beitrag leisten. Es erwarten alle, dass die Politik und die Verwaltung Massnahmen zum Klimaschutz und zur Klimaanpassung ergreifen. Aber Privatpersonen könnten und müssten genauso dazu beitragen, indem sie zum Beispiel ihr Abstandsgrün entsprechend aufwerten. Wir müssen die Frage, wie wir alle einen Beitrag leisten können, viel mehr ins Zentrum rücken. Auch bei der Nutzung von öffentlichen Flächen oder vom vielen ungebrauchten Abstandsgrün.

Was ist denn Ihre Vision? Wie würde es aussehen, wenn das Abstandsgrün neu gedacht würde?

Ich stelle mir eine grosse Vielfalt vor, die dem Erhalt der Lebensqualität dient. Eine Vielfalt für Mensch und Natur.

Titelbild: Bryum


Beitrag teilen

Hinweis zum PDF erstellen

Über diesen Button wird das Druckmenu aufgerufen. Hier kann der Artikel wenn gewünscht auch als PDF heruntergelanden werden.