Von natürlichen Kreisläufen und unsinnigen Normen

Food Waste hängt eng mit bestimmten Formen der Produktion und des Konsums zusammen. Will man das Problem ernsthaft angehen, gilt es hier anzusetzen. Die entsprechenden Lösungen liegen auf dem Tisch. Wenn alle an einem Strang ziehen, kann auch ihre Umsetzung gelingen.
Aktuell werden in der Schweiz jedes Jahr zwei bis drei Millionen Tonnen Nahrungsmittel weggeworfen. Das entspricht einem Drittel aller verfügbaren Lebensmittel. Der Kern des Problems geht allerdings weit über den Moment des Entsorgens hinaus und umfasst eine ganze Reihe von Ursachen, die von der Produktion über den Transport bis zum Konsum reicht und an der viele verschiedene Akteur:innen beteiligt sind. Ein Blick auf diese Ursachen und damit auf die Vorgeschichte der weggeworfenen Lebensmittel macht deutlich, wo eine effektive Bekämpfung von Food Waste ansetzen muss und wieso eine vorschnelle Engführung auf den Aspekt der Überproduktion nicht zielführend ist.
Überproduktion als Naturphänomen
Dass nicht die ganze Ernte den Weg auf unsere Teller schafft, ist per se nicht schlimm. Schliesslich ist Überproduktion in der Natur durchaus üblich. Eine Eiche beispielsweise produziert in ihrem Lebenszyklus etwa 30 000 Eicheln, obwohl sie im Durchschnitt nur einen Nachkommen braucht, um das Überleben der Art zu sichern. Die Natur rechnet bei der Produktion von Früchten also von vornherein mit hohen Verlusten und trifft entsprechende Vorkehrungen. Insofern ist es ganz natürlich, wenn auch wir Menschen sicherheitshalber erst mal mehr als nötig anbauen. Diese Argumentation lässt sich mit dem urnatürlichen Prinzip der Kreislaufwirtschaft noch stärken. Denn wenn wir die Früchte und Gemüse, die wir nicht essen, kompostieren oder in einer Biogasanlage vergären, so bleiben die Nährstoffe erhalten und können mit dem Kompost oder dem Dünger zurück in die Landwirtschaft ausgebracht werden. In diesem Fall erscheint die Lebensmittelverschwendung nicht als Problem, sondern als einer von mehreren Schritten innerhalb eines geschlossenen Nährstoffkreislaufs. Solche Kreisläufe kennen wir auch aus der Natur. So etwa im Fall von liegen gebliebenen Früchten, die zu fruchtbarer Erde zersetzt werden.
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Intensiv, schädlich, bedrohlich
Die Problematik von verschwendeten Lebensmitteln besteht also nicht in erster Linie in dem, was nach ihrer Entsorgung passiert. Aus einer weggeworfenen Papaya beispielsweise können durch die Umwandlung in Biogas oder Kompost erneuerbare Energie und wertvolle Nährstoffe gewonnen werden. Viel problematischer ist die Vorgeschichte. Denn hier werden die Anforderungen einer Kreislaufwirtschaft mehrfach verletzt. Und das bereits vor dem Transport im Flugzeug. Die meisten Papayas stammen nämlich aus monokulturartigen Anbausystemen, wo sie mit Pestiziden behandelt werden. Dieser Form der Landwirtschaft wurden bereits zahlreiche natürliche Ökosysteme geopfert, die nun als Lebensraum für viele Tier- und Pflanzenarten fehlen. Und das wiederum ist der Hauptgrund dafür, dass heute täglich über hundert dieser Arten unwiederbringlich aussterben. Dieses Massensterben ist das grösste aller bisher entdeckten Massensterben in der Evolutionsgeschichte.
Wenn wir Food Waste und seine schädlichen Auswirkungen auf die Umwelt bekämpfen wollen, müssen wir daher unweigerlich die Art und Weise überdenken, wie wir unsere Lebensmittel produzieren.
Die moderne landwirtschaftliche Produktion frisst nicht nur natürliche Lebensräume auf, sondern verursacht auch Emissionen von Treibhausgasen, Pestiziden und Düngerüberschüssen. Und das in einem besorgniserregenden Ausmass. So heizen die ernährungsbedingten Emissionen über die ganze Wertschöpfungskette vom Feld bis zum Teller das Klima mehr auf als etwa das Wohnen oder die Mobilität. Zu viel konventionelle, intensive Landwirtschaft kann die Biodiversitäts- und Klimakrise derart verschärfen, dass sie zur tödlichen Bedrohung für die Menschheit wird.
Regenerativ gegen Food Waste
Um das dramatische Artensterben und die Klimaerwärmung zu bremsen, gilt es, genügend Lebensräume unberührt zu lassen oder so zu erhalten, dass sie ihre eigentlichen Funktionen erfüllen können. Dazu müssen regenerative landwirtschaftliche Produktionssysteme geschaffen werden, bei denen die Bodenfruchtbarkeit langfristig erhalten wird, keine schädlichen Emissionen entstehen und die Funktion als Lebensraum intakt bleibt. Ein Beispiel für bereits existierende Systeme dieser Art sind gewisse Bio-Anbausysteme mit kleinflächigen Parzellen und ohne synthetische Pestizide. Aufgrund geringerer Erträge und eines höheren Arbeitseinsatzes gelten sie jedoch oft als zu teuer. Die Kosten der Folgeschäden, die sie verhindern, werden dabei ausgeblendet.
Wenn wir Food Waste und seine schädlichen Auswirkungen auf die Umwelt bekämpfen wollen, müssen wir daher unweigerlich die Art und Weise überdenken, wie wir unsere Lebensmittel produzieren. Dazu sind wir letztlich auch aus ethischer Sicht verpflichtet. Denn ob wir uns für eine nachhaltige Landwirtschaft entscheiden, die auch unsere Kinder und Enkelkinder ernähren kann, und ob wir auf Billigimporte verzichten, die letztlich auf Kosten der Ernährungssicherheit in Drittweltländern gehen, ist keine Frage von Vorlieben, sondern eine moralische Entscheidung.
Food Waste als Marktversagen
Beschäftigt man sich mit dem Phänomen Food Waste, gilt es, neben der Produktion auch die Vermarktung und den Verkauf von Lebensmitteln in den Blick zu nehmen. Und dabei wiederum spielen die sogenannten Qualitätsnormen, die für bestimmte Produkte eine zwingende Voraussetzung für einen Platz im Regal sind, eine besonders negative Rolle. Denn solche Normen führen oft unmittelbar zur unnötigen Verschwendung von eigentlich geniessbaren Lebensmitteln. Dabei gäbe es durchaus Wege, um die Normen zu lockern. Zum Beispiel dadurch, dass Konsument:innen dafür sensibilisiert werden, Produkte ausserhalb der Norm so lange aktiv nachzufragen, bis der Handel darauf reagiert und sie ins Sortiment aufnimmt. Genauso zielführend wäre es jedoch, wenn der Handel selbst den ersten Schritt macht und branchenweit die Normen lockert, sodass künftig auch solche Lebensmittel standardmässig verkauft werden können, die bisher aus der Norm fielen.
Würden die Normen hingegen in der gesamten Branche gelockert, so wäre allen geholfen und das Problem Food Waste einer Lösung ein Stück näher.
Manche sehen in dieser Massnahme eine Einschränkung des freien Handels und eine Bevormundung der Konsument:innen. Dabei wird jedoch verkannt, dass das Kaufverhalten kein freier Ausdruck von Vorlieben, sondern vielmehr eine Reaktion auf das vorhandene Angebot ist. So zeigt etwa ein Fall aus England, dass die Kund:innen eine Lockerung der Normen bei Kartoffeln infolge einer regenbedingten Mangelsituation keineswegs als negativ empfanden, ja teils nicht einmal bemerkten. Und trotzdem greifen die Konsument:innen zu den normierten Kartoffeln, wenn ihnen die Auswahl präsentiert wird. Der Rest bleibt auf der Strecke.
An solchen Beispielen sieht man, wie Food Waste als Resultat von Marktversagen entsteht. Diesen Mechanismus können wir auch in der Schweiz beobachten, wo die Produktnormen im Wettbewerb mit den anderen Marktteilnehmern immer weiter hochgeschaukelt werden, obwohl dadurch keinerlei Mehrwert für die Kundschaft entsteht. Würden die Normen hingegen in der gesamten Branche gelockert, so wäre allen geholfen und das Problem Food Waste einer Lösung ein Stück näher.
Wandel als Chance
Die Lockerung von Qualitätsnormen und ein Umdenken in der Produktion sind nur zwei von vielen Food-Waste-Vermeidungsmassnahmen, die ohne Verzicht auf Lebensqualität und ohne technologische Innovation sehr rasch umsetzbar sind. Sie sind die «low-hanging Fruits» eines einschneidenden Wandels, der auf uns zukommt – manchmal sogar im wahrsten Sinne des Wortes. Diesen Wandel zu beschleunigen, ist für die Politik, die Gemeinden und die Kantone weniger eine mühsame Pflicht, als vielmehr eine grosse Chance. Denn wie der bundesrätliche Aktionsplan gegen Lebensmittelverschwendung zeigt, liegen die Lösungen auf dem Tisch. Sie müssen nur noch umgesetzt werden.
Der Artikel ist im «Thema Umwelt» 3/2022 erschienen.
Titelbild: Claudio Beretta