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Biodiversität
Fachartikel

Ingenieurbiologische Bauweisen für lebendige Gewässer

Pascal Sieber
Andreas Nagel
Eine Gruppe renaturiert einen Bach.

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8 Minuten Lesezeit

Biodiversität

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Je diverser das Gewässer, desto vielfältiger sind auch seine Bewohner:innen. Doch mangelt es gerade den Schweizer Fliessgewässern an Dynamik und Struktur – eine schlechte Voraussetzung für die Biodiversität. Zum Glück gibt es wasserbauliche Massnahmen, die wieder mehr Leben in die Gewässer bringen. Dazu gehört die Ingenieurbiologie.

Insgesamt 65'000 Kilometer Flüsse und Bäche durchziehen die Schweiz. Rund ein Viertel davon befindet sich heute in einem ökomorphologisch schlechten Zustand. Das heisst, diese Flüsse und Bäche sind als Lebensräume stark beeinträchtigt. Im intensiv genutzten Mittelland hat die Hälfte der Fliessgewässer kaum mehr etwas mit ihrem natürlichen Zustand zu tun.

Verbaute, wenig strukturierte und zu intensiv unterhaltene Fliessgewässer können ihre ökologischen Funktionen nur sehr eingeschränkt erfüllen. Das ist mit ein Grund, weshalb in keinem anderen Ökosystem derart viele Tier- und Pflanzenarten gefährdet sind, wie im und am Wasser. Denn ganze 84 Prozent aller in der Schweiz vorkommenden Tier- und Pflanzenarten sind genau in diesem Lebensraum zu finden.

Zurück zur Natur mit Dynamik und Struktur

Zum Glück werden in der Schweiz immer mehr Fluss- und Bachabschnitte von ihren Verbauungen befreit und mit verschiedenen Massnahmen wieder naturnäher gestaltet. Die ökologische Aufwertung von Fliessgewässern schafft neue Lebensräume und verbindet zugleich Bestehendes. Basis dafür ist etwas mehr Raum und die Wiederherstellung der Vielfalt durch Strukturen und Dynamik sowie eine ausreichende Beschattung.

Mit biologischen Baustoffen gestalten

Ingenieurbiologische Bauweisen können einen wichtigen Beitrag dazu leisten, Fliessgewässer wieder vielfältiger zu gestalten und die Biodiversität zu fördern. Zum Einsatz kommen dabei biologische Baustoffe wie Pflanzen, Pflanzenteile und Samen, oft auch in Kombination mit Bau- und Hilfsstoffen wie Holzpfählen, -pflöcken und -stangen, aber auch mit Naturfasertextilien und Verbindungselementen wie Nägeln, Schrauben oder Draht.

Ingenieurbiologische Massnahmen sind Bestandteile des naturnahen Wasserbaus und lassen sich besonders gut im Rahmen von baulichem Gewässerunterhalt einsetzen. Schon seit Jahrhunderten dienen diese Lösungen dazu, Ufer und Böschungen zu stabilisieren. Heute werden sie vermehrt explizit zur Strukturierung von Gewässern eingesetzt. Sie sind also nicht als Ersatz, sondern als notwendige und sinnvolle Ergänzung zu rein technischen Ingenieurbauweisen zu verstehen. Sie können sowohl eigenständig als auch in Kombination mit rein technischen Bauweisen zum Einsatz kommen.

Ein Vorher/Nachher-Vergleich eines begradigten Baches, der nach der Renaturierung wieder mäandriert.

Ingenieurbiologische Bauweisen sichern Ufer und Sohlen, verhelfen aber auch Flüssen und Bächen wieder zu mehr Struktur und Dynamik. Bild: Andreas Nagel

Die Arbeit mit biologischen Werkstoffen bringt verschiedene Vorteile mit sich: Im Gegensatz zu rein technischen Bauwerken erfüllen ingenieurbiologische Bauweisen gleichzeitig auch ökologische und landschaftsgestalterische Qualitäten. Ausserdem sind entsprechende Elemente oft einfach herzustellen und benötigen bei kleineren Fliessgewässern weniger Maschineneinsatz. Es lohnt sich, wenn immer möglich, mit natürlichen und standortgerechten Materialien zu arbeiten. Natürliches und insbesondere lebendes Material ist flexibler, wirkt beispielsweise bei Pflanzen durch stetiges Wachstum und tiefe Verwurzelung zuverlässig und ist ökologisch wertvoll. Da sich das Material aber über die Zeit abbaut, nutzen sich Sicherungen aus natürlichen Werkstoffen mit der Zeit ab und müssen regelmässig überprüft und teilweise auch unterhalten werden.

Zwei Männer erstellen ein Bündel aus Ästen auf einem Kiesweg.

Mit Pflanzenmaterialien bringen die Ingenieure die Biologie in die Gewässer. Hier wird gerade eine Faschine, ein Konstrukt aus Rutenbündeln, für den Einsatz im Wüeribach (ZH) gebaut. Bild: Pusch

Vielseitige Elemente für vielfältige Bäche und Flüsse

Ingenieurbiologische Bauweisen sind in der Regel vielseitig einsetz- und kombinierbar und einfach in ihrer Herstellung. Zu den klassischen und wirkungsvollsten Elementen gehören unter anderem folgende:

  • Gehölze stabilisieren mit ihren Wurzeln die Ufer in tieferen Bodenschichten. Bei kleineren Gewässern reichen sie sogar bis unter die Sohle, die tiefste Stelle des Gewässers, und tragen so auch zu deren Stabilisierung bei. Schwarzerlen und Weiden eignen sich hervorragend als solche lebenden Wasserbau-Elemente. Sie bilden schon nach wenigen Jahren einen umfassenden Schutz. Dies macht sie zum wertvollen ingenieurbiologischen «Bauelement», das im Gegensatz zu einem Hartverbau, beispielsweise aus Beton oder Metall, stetig stärker und stabiler wird.

Frisch renaturierter Bach mit Strukturelementen und gepflanzten Erlen.

Wenn Bäume zu lebenden Bauelementen werden. Im Bild eine frisch gepflanzte Schwarzerle. Bild: Pascal Sieber

  • Buhnen sind quer zur Fliessrichtung eingebaute Wasserbauelemente zum Schutz des Ufers vor Erosion oder zur Strukturierung des Gewässerbetts. Sie können aus verschiedenen Materialien wie etwa Pfahlreihen, Steinen, Baumstämmen oder Faschinen (siehe weiter unten) gebaut werden. Sogenannte Lenkbuhnen werden auch bei Niedrigwasser permanent überströmt und üben deshalb eine lenkende Wirkung auf die Wasserströmung aus.

Eine Dreiecksbuhne, geformt aus zwei Faschinen, lenkt hier die Strömung.

Eine Dreiecksbuhne, geformt aus zwei Faschinen, lenkt hier die Strömung. Bild: Pusch

  • Faschinen sind Bündel von abgestorbenen oder noch austreibenden Holzruten. Sie werden kreuzweise mit Pflöcken befestigt, um ein Abdriften bei Hochwasser zu verhindern. In der Regel dienen sie dazu, abschüssige Uferpartien zu stabilisieren, damit es bei starken Niederschlägen oder durch Wasserströmung keinen Bodenabtrag gibt. Sie sind sehr vielfältig auch für andere Elemente, beispielsweise als Teil einer Buhne, einsetzbar.

Ein Bach mit Holzpfählen und Weidenrutenbündeln.

Mit einer Faschine lässt sich die Uferpartie befestigen. Bild: Andreas Nagel

  • Zu Pfahlreihen angeordnete Holzpfähle können in mehr oder weniger dichten Abständen in die Gewässersohle eingerammt werden, so dass sich Äste, Zweige und Blattmaterial darin verfangen. Als Hindernis im Bach oder Fluss sorgen diese Pfahlreihen für eine Strukturierung und für vielfältige Strömungsverhältnisse.

Holzpfähle in einem kleinen Bach, die organisches Material angesammelt haben.

Eine Pfahlreihe mit angeschwemmtem Material. Bild: Pusch

  • Ein Flechtzaun kann als Uferschutz dienen oder strömungsberuhigende Zonen schaffen. In Verwendung als Uferschutz wird er böschungsnah mit lebenden Ästen gebaut. Als rein ökologisches Bauelement kann er mit einem Abstand vom Böschungsfuss ins Gewässer gebaut werden, sodass eine stömungsberuhigte Zone, auch Hinterwasser genannt, entsteht. Je nach Platzverhältnissen kommt abgestorbenes oder lebendiges Astmaterial zur Anwendung.

Ein Bach mit aus Holzpflöcken und Ästen erstelltem Flechtzaun zur Uferbefestigung.

Ein Flechtzaun mit «Hinterwasser». Bild: Andreas Nagel

  • Wurzelstöcke sind ökologisch sehr wertvolle Bauelemente. Sie strukturieren und dynamisieren die Gewässersohle und bilden «Kolken» – kleine, wassergefüllte Vertiefungen. Diese kleinen Biotope dienen vielen Lebewesen wie Algen, Insekten, Fischen oder Vögeln als Nahrungs- und Lebensgrundlage. Die mit Pfählen befestigten Wurzelstöcke unterschiedlicher Grösse können sehr vielfältig eingebaut werden, beispielsweise direkt in die Sohle oder in eine Böschung. Wichtig ist, dass grosse Teile des Wurzeltellers im Wasser liegen und die Wurzelstöcke so ihre optimale Wirkung entfalten können.

Ein mit Pfählen verankerter Wurzelstock in einem Bach.

Ein mit Pfählen verankerter Wurzelstock im Wüeribach. Bild: Pusch

Umsetzungshilfe für die Praxis

Eine detaillierte Beschreibung und weitere mögliche Bauelemente sind in der Praxishilfe «Ingenieurbiologische Bauweisen im naturnahen Wasserbau» des Bundesamts für Umwelt (BAFU) zu finden. 

Mit dem richtigen Unterhalt zum Erfolg

Damit die eingebauten ingenieurbiologischen Strukturelemente langfristig erhalten bleiben oder, wo nötig, erneuert werden, braucht es einen geregelten Gewässerunterhalt. Die Unterhaltsverantwortlichen können bei negativen Veränderungen frühzeitig informieren, damit notwendige Erneuerungen oder Anpassungen an den Bauten rechtzeitig vorgenommen werden können. Es empfiehlt sich, neue Strukturelemente in die Unterhalts- und Pflegeplanung aufzunehmen.

Auch ohne bauliche Massnahmen kann eine besonders ökologisch ausgerichtete Pflege bei jedem Gewässer wesentliche Verbesserungen bringen:

  • Hochstaudenfluren bieten wertvolle Habitate für Insekten und Spinnen und sind damit Nahrungsgrundlage für Vögel und Kleinsäuger. Idealerweise reichen sie bis ans Gewässer und bilden einen Übergangsbereich von Gehölzen zu Wiesenland. Die Stauden sollten frühestens im Herbst geschnitten werden (immer ein Drittel des Bestandes stehen lassen).

  • Gestuftes und standortgerechtes Ufergehölz beschattet, strukturiert und vernetzt die Gewässer.

  • Anfallendes Totholz des Ufergehölzes sollte, wenn immer möglich, liegengelassen werden.

Viele Bäche werden zu stark gepflegt, dabei ist weniger oft mehr. Wer zurückhaltend, zeitlich abgestimmt und abschnittsweise pflegt, kann bereits grosse ökologische Wirkung erzielen. Es lohnt sich, der Natur – wo möglich – ihren Lauf zu lassen.

Zum Unterhaltsprofi für Gewässer

Natürliche Oberflächengewässer verhalten sich dynamisch und brauchen keinen Unterhalt – die Natur pflegt sich selbst. Im Siedlungsgebiet setzen menschliche Erwartungen der Gewässerdynamik Grenzen. Die Gewässer dürfen nicht über die Ufer treten und ihren Lauf nicht verlagern. Einerseits sollen sie Tieren und Pflanzen einen Lebensraum und andererseits Menschen einen attraktiven Naherholungsraum bieten. Geschickter Gewässerunterhalt kann dazu beitragen, diese Ansprüche zu erfüllen. Dafür braucht es Profis. Pusch bietet deshalb den Zertifikatskurs «Gewässerwart – Pflege und Unterhalt» an.

Darauf aufbauend führt Pusch am 3./4. September 2024 den Vertiefungskurs «Ingenieurbiologie für Gewässerwarte» durch. Der Kurs findet in Gossau statt und wurde 2023 im Rahmen des Programms «Vielfältige Zürcher Gewässer» vom Kanton Zürich neu entwickelt. Das Förderprogramm finanziert die Kurskosten beider Weiterbildungen für die zuständigen Gemeindemitarbeitenden im Kanton Zürich. Das Programm hat sich zum Ziel gesetzt, die biologische Vielfalt von Bächen und Weihern zu fördern sowie deren Ökosysteme aufzubauen und zu schützen. Durch eine naturnahe Gestaltung und Pflege sollen wertvolle Lebensräume für Tiere und Pflanzen entstehen, die auch der Bevölkerung einen Mehrwert bieten.

Eine Gruppe von Gemeindeleuten betrachtet einen renaturierten Bach am Waldrand.

Mit geschicktem Gewässerunterhalt lässt sich viel erreichen – Profis wissen, wo sie aktiv werden müssen und wo es besser ist, der Natur freien Lauf zu lassen. Bild: Pusch


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