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Klima und Energie
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«Wir haben uns auf Ziele geeinigt, aber nicht auf den Weg dorthin»

Nadine Siegle
Alexander Keberle
Arbeiter installieren Solarpanels der alpinen Solaranlage «AlpinSolar» auf der Muttsee-Staumauer im Kanton Glarus.

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9 Minuten Lesezeit

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Versorgungssicherheit, Unabhängigkeit vom Ausland, Netto-Null und totaler Landschaftsschutz – alles könnten wir nicht haben, betont Alexander Keberle von economiesuisse. Im Interview erklärt er, wo wir heute stehen und wieso der Weg zu einer versorgungssicheren und gleichzeitig klimaneutralen Zukunft eine herausfordernde Gratwanderung werde.

Nadine Siegle im Gespräch mit Alexander Keberle

An der Tagung «Netto-Null und Versorgungssicherheit – wie geht das?» vom 5. September haben Sie nicht nur zuversichtlich über den Weg zu Netto-Null bis 2050 gesprochen. Wieso das?

Alexander Keberle: Wir haben uns in der Schweiz mittlerweile zwar auf gemeinsame Ziele geeinigt. Es besteht aber keine Einigkeit über den Weg, wie wir dorthin kommen. Im Moment schaffen wir die Gratwanderung zwischen ambitioniertem Voranschreiten im Klimabereich und Mehrheitsfähigkeit noch nicht.

Ein weiterer Grund für die nicht nur zuversichtlichen Prognosen ist, dass wir die Versorgungssicherheit mit sauberem Strom noch nicht gewährleistet haben. Dadurch sind Wohlstand und Klimaziele gefährdet.

Wo liegen die grössten Herausforderungen?

Eine der grössten Herausforderung wird sein, die genannte Gratwanderung zwischen Mehrheitsfähigkeit und ambitionierten Klimazielen zu schaffen. Ausserdem gilt es, die harten, aber nötigen Entscheidungen zu treffen: Es gibt nicht das Weggli und das Zehnerli, wie wir in Basel sagen. Heute wünschen wir uns die totale Versorgungssicherheit, klimaneutral, ohne Abhängigkeit vom Ausland. Das Ganze aber ohne Kernkraftwerke und mit viel Landschaftsschutz. Das geht nicht, wir können nicht alles haben.

Alexander Keberle, Mitglied der Geschäftsleitung, Bereichsleiter Umwelt, Energie und Infrastruktur, economiesuisse

«Die wichtigste Zutat für Netto-Null ist das Thema Energie. Wenn wir es nicht schaffen, bis 2050 genügend saubere Energie zu produzieren, verfehlen wir die Klimaziele.»

Alexander Keberle, economiesuisse

Wo würden Sie Abstriche machen?

Wir müssen vor allem dabei Abstriche machen, das Problem mit einer einfachen Patentlösung aus der Welt schaffen zu wollen. Wir brauchen jetzt viel von allem. Klimaneutrale Technologien sind kein «entweder oder» sondern ein «sowohl als auch». Wir müssen offener sein für alpine Solaranlagen und Windanlagen, zumindest in der Nähe bestehender Infrastrukturen, wie Skilifte oder Staudämme. Ausserdem müssen wir offen sein für alle klimaneutralen Technologien. Auf die bestehenden Kernkraftwerke können wir nicht verzichten und sie sollten weiterlaufen, solange sie sicher sind. Und wir müssten das Kernkraftverbot aufheben. Aber auch Geothermie oder andere Zukunftstechnologien müssen wir zu nutzen versuchen.

Zur Person

Alexander Keberle ist Bereichsleiter Umwelt, Energie und Infrastruktur und Mitglied der Geschäftsleitung bei economiesuisse, dem Dachverband für die Schweizer Wirtschaft. Er hat Recht, Wirtschaft und Politik studiert und ist Mitglied im Vorstand des Schweizer Alpenclub SAC, Sektion Uto.  

Die Versorgungssicherheit scheint sich zu einem hochpolitischen Thema entwickelt zu haben. Wieso?

Einerseits ist das Thema so politisch, weil es uns alle betrifft. Die Veränderungen der Strompreise betreffen jede und jeden. Die Stromleitungen laufen wortwörtlich direkt in unsere Häuser und Wohnungen. Andererseits ist die Versorgungssicherheit eigentlich ein Thema, in dem es eher um Zahlen und Fakten gehen sollte als um Meinungen. Trotzdem ist es sehr politisch und ideologisch geworden. Jede Partei hat in diesem Bereich klare rote Linien, die teilweise seit Jahrzehnten bestehen: die SP will keinen offenen Strommarkt, GLP und Mitte keine Kernkraft, die FDP ist zurückhaltend bei Fördermitteln und die SVP sperrt sich gegen die Windkraft. Eine interessante Rolle spielen die Grünen, die nach Eigenaussagen zwar für die Energiewende auf die Erneuerbaren bauen wollen, aber gleichzeitig in der Praxis keine Erneuerbaren bauen wollen. Sie gehen in Opposition zu fast allen Freiflächenanlagen. Gibt es in der Politlandschaft so viele rote Linien, sind Lösungen kaum möglich.

Und wie spielt das Netto-Null-Ziel in das ohnehin schon hochpolitische Thema der Versorgungssicherheit hinein?

Die wichtigste Zutat für Netto-Null ist das Thema Energie. Wenn wir es nicht schaffen, bis 2050 genügend saubere Energie zu produzieren, verfehlen wir die Klimaziele. Und die Dekarbonisierung bedeutet nun mal Elektrifizierung. Studien zeigen deutlich: Wir müssen die Stromproduktion bis 2050 mindestens verdoppeln, um die Klimaziele zu erreichen.

«Die drei Mindestvoraussetzungen für die Zukunft sind: versorgungssicher, wirtschaftlich und klimaneutral.»

Alexander Keberle

Ist es denn möglich, den zusätzlich benötigten Strom zuzubauen?

Ja, ich glaube schon. Es gibt auch dazu Studien, die Wege zeigen. Es wird aber ein «Hoselupf». Mit «weiter wie bisher» ist es sicher nicht möglich. Wir müssen Verfahren und Interessenabwägungen lösen, die Finanzierung sicherstellen und, wie schon erwähnt, auch das Kernkraftverbot aufheben.

Ginge es auch ohne Kernkraft?

Das Schwierige an der Energiepolitik ist: Es führen viele Wege nach Rom. Aber manche Wege sind länger ‒ teilweise viel länger ‒ als andere. Die drei Mindestvoraussetzungen für die Zukunft sind: versorgungssicher, wirtschaftlich und klimaneutral. Die Frage ist, wie wir am effizientesten dahinkommen. Eine Studie, die economiesuisse bei der ETH Zürich in Auftrag gegeben hat, zeigt: Kernkraft macht das Stromsystem stabiler und deutlich günstiger. Und sie zeigt auch: Man kann nicht gleichzeitig gegen alpine Solaranlagen und Kernkraftkraftwerke sein, sonst manövrieren wir uns in eine Sackgasse.

Politische Prozesse sind bekannterweise eher langsam. Wie schaffen wir denn die nötigen Rahmenbedingungen noch rechtzeitig?

Bei der Versorgungssicherheit ist es gleich wie bei der Klimapolitik: Je früher wir anfangen, desto weniger radikal müssen wir sein. Leider vergeuden wir momentan etwas Zeit. Aber vielleicht gibt die neue Legislatur ja endlich Gas ‒ respektive hoffentlich nicht Gas, sondern klimaneutrale Energien.

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Kommen wir zu den Gemeinden: Welche Rolle kommt ihnen in diesem ganzen Prozess zu?

Eine Gemeinde hat zwei wichtige Rollen: Einerseits ist sie als Trägerin von Infrastrukturen, als Stromproduzentin oder Beteiligte von Energieversorgungsunternehmen selbst wichtige Akteurin im föderalistischen System. Und anderseits ist sie der Kontaktpunkt zwischen Bürger:innen und Politik. Da hat die Gemeinde wichtige Aufgaben beim Zuhören, Verstehen der Bedürfnisse und Probleme und schliesslich aber auch beim Formen von Meinungen und beim Stärken von Akzeptanz.

Aber wie gross sind die Verantwortung und die Hebel der Gemeinden hinsichtlich der Klimaziele und der Versorgungssicherheit wirklich?

Das ist das Spezielle in diesen Bereichen: Sowohl beim Klima als auch bei der Versorgungssicherheit tragen alle und doch niemand die Verantwortung. Alles spielt zusammen. Die Gemeinden sind aber ein wichtiges Zahnrad in diesem Gefüge.

Was raten Sie Vertreter:innen von Gemeinden konkret? Gerade jenen, die eigentlich mit dem Alltagsgeschäft schon genug um die Ohren haben?

Städte und Gemeinden sind sehr verschieden. Nur schon die Grössenunterschiede sind enorm. Ein Rezept für alle gibt es nicht. Wichtig ist auf jeden Fall, sich mit anderen Gemeinden zu vernetzen und zu verstehen, was man als Gemeinde tun kann, soll und muss.

Haben Sie noch konkretere Tipps?

Gemeinden sollten nach dem Motto «Walk the talk» agieren. Das heisst, dass sie die Projekte auch umsetzen und die Ziele anstreben, die beschlossen wurden. Als Zweites sollten Gemeinden Innovation fördern und als Katalysatoren auftreten. Sie können im Kleinen Ansätze testen, die gesamtschweizerisch möglicherweise noch nicht umgesetzt werden könnten. Eine weitere wichtige Aufgabe ist es, die Akzeptanz zu stärken. Ohne Akzeptanz in der Bevölkerung scheitert die Klimapolitik. Ein anschauliches Beispiel sind die Solaranlagen, die im Wallis und im Engadin gebaut werden sollen. Am Ende entscheidet die lokale Bevölkerung an der Urne.

Sie sagen, ohne Akzeptanz in der Bevölkerung scheitere die Klimapolitik. Heute scheint die Unterstützung der Bevölkerung für die Klimaziele teilweise aber eher zu sinken. Was läuft schief?

Woran das genau liegt, ist schwer zu sagen. Es scheint einfacher zu sein, die schnellen radikalen Lösungen zu verfolgen und über die Köpfe hinweg zu bestimmen, als einen möglicherweise aufwendigen, aber gemeinsamen Prozess zu durchlaufen. Die Solaroffensive des Bundes ist ein gutes Beispiel dafür: Auf Bundesebene will man vorwärtsmachen, hat die Rechnung aber nicht mit den Gemeinden gemacht. Und am Ende scheitern Projekte an der Urne in den betroffenen Gebieten. Die schnellen Lösungen sind auf dem Papier häufig besser als in der Realität. In der Realität ist es aber wie beim Berglaufen: Mit stetem Schritt kommt man schneller ans Ziel, als wenn man zu schnell läuft und dann stolpert.

«Der Klimaschutz muss der Bevölkerung etwas bringen. Es geht darum, eine positive Version der Zukunft zu kreieren und zu zeigen, dass es hier nicht um eine Ökodiktatur geht.»

Alexander Keberle

Wieso ist die Klimapolitik eine derart schwierige Gratwanderung?

Weil der Grat extrem schmal ist: Auf der einen Seite haben wir die demokratische Akzeptanz, auf der anderen die Erreichung des Netto-Null-Ziels. Die spannende Frage ist, ob beides miteinander möglich ist. Oder schliessen sie sich gegenseitig aus? Dort wo wir den Grat sehen, gilt es ihn zu beschreiten, auch wenn es mühsam ist. An gewissen Stellen gibt es aber auch gar keinen Grat mehr, da sich Zielsetzungen gegenseitig ausschliessen. Dort müssen wir ehrlich sein und das machen, was wir in der Schweiz etwas verlernt haben: Schmerzhafte Kompromisse eingehen.

Und wie könnte die Gratwanderung gelingen?

Wir haben bei economiesuisse fünf Hypothesen aufgestellt, mit denen man den Grat am ehesten findet, falls es ihn denn gibt: Zunächst einmal muss der Klimaschutz der Bevölkerung etwas bringen. Es geht darum, eine positive Version der Zukunft zu kreieren und zu zeigen, dass es hier nicht um eine Ökodiktatur geht. Zweitens ist das Prinzip «No cutting corners» wichtig. Die Argumentation muss in sich stimmig sein, ansonsten fliegt sie einem anschliessend um die Ohren.

Als Drittes sollten wir die Nachhaltigkeit ganzheitlich denken. Wenn man an einem Rädchen dreht, verschiebt sich in der Maschine häufig auch an anderen Orten noch etwas. Dessen muss man sich bewusst sein, damit man sich am Ende nicht ins eigene Fleisch schneidet. Ein illustratives Beispiel sind die strengen neuen Mieterschutz-Bestimmungen im Kanton Basel-Stadt, die dazu geführt haben, dass energetische Sanierungen regelrecht eingebrochen sind.

Viertens muss «Innovation vor Regulierung» gelten. Erst danach können wir zu prinzipienbasierten Regulierungen greifen. Und so wenig wie möglich zu tatsächlichen Verboten. Letztere machen das Volk – auf Schweizerdeutsch gesagt – ziemlich hässig. Als Beispiel: Ich bin fest davon überzeugt, dass sich die Elektromobilität durchsetzen wird. Einfach weil sie effizienter, besser, sauberer und leiser ist. Wenn wir diese Entwicklung nun mit Verboten beschleunigen wollten, würde das der ganzen Sache eher schaden.

Und zu guter Letzt sollten wir die Wissenschaft immer in den Vordergrund rücken, ganz nach dem Prinzip «Follow the science». Es ist ein komplexes Thema und wir alle lesen lieber leichteres, das ist mir bewusst. Aber wir müssen es dennoch versuchen.

 

Titelbild: Installation der alpinen Solaranlage «AlpinSolar» auf der Muttsee-Staumauer im Kanton Glarus. Seit September 2022 ist sie vollständig in Betrieb. (Quelle: AlpinSolar/Axpo)


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