«Der Preis als Zuschlagskriterium bremst den Wettbewerb um die bessere Qualität aus»

Die revidierte Beschaffungsgesetzgebung gibt öffentlichen Beschaffungsstellen mehr Möglichkeiten, Qualität und Nachhaltigkeit zu fördern. Trotzdem zögern manche Gemeinden, ihre Spielräume im Vergabealltag zu nutzen. Marc Steiner, Richter am Bundesverwaltungsgericht, verrät, wie man die Spielräume und Kriterien rechtssicher nutzt und dabei echte Veränderungen anstösst.
Jennifer Zimmermann im Gespräch mit Marc Steiner
Nach dem Beitritt aller Kantone zur Interkantonalen Vereinbarung über das öffentliche Beschaffungwesen (IVöB) ist die Vergaberechtsreform nun überall in der Umsetzung. Wie schätzen Sie die aktuelle Situation ein?
Inzwischen sind die meisten Kantone der neuen IVöB beigetreten. Die Richtung der IVöB stimmt, aber das Tempo bei der Förderung des «Qualität vor Preis»-Denkens ist zu langsam. Einige Wirtschaftsverbände fordern deshalb ein entschiedeneres Vorgehen. Insbesondere der Bund müsse sich stärker engagieren.
Warum sind klare Richtlinien zur nachhaltigen Beschaffung wichtig?
Ein Commitment des Gemeinderats – etwa in Form einer Beschaffungsstrategie oder einer Richtlinie zur nachhaltigen öffentlichen Beschaffung – gibt Beschaffungsverantwortlichen Rückhalt. Klare Vorgaben mindern den Rechtfertigungsdruck und vermeiden wiederkehrende Diskussionen zum Design von Ausschreibungen im Einzelfall.

«Mehreignungskriterien müssen wie Eignungskriterien auch immer einen Bezug zum Auftrag haben.»
– Marc Steiner, Richter am schweizerischen Bundesverwaltungsgericht
Über Marc Steiner
Marc Steiner ist seit 2007 Richter am schweizerischen Bundesverwaltungsgericht, wo er den Aufbau des Fachbereichs öffentliches Beschaffungswesen mitverantwortet hat. Er ist einer von vier Mit-Autoren des Standardwerks «Praxis des öffentlichen Beschaffungsrechts». Seit 2011 ist er Referent beim Pusch-Weiterbildungsangebot für Gemeinden «Öffentliche Beschaffung nachhaltig und rechtskonform gestalten».
Darf eine Gemeinde von ihren Lieferant:innen Umweltstandards einfordern, auch wenn sie selbst keine entsprechenden Strategien verfolgt?
Ja, klar. Rechtlich gesehen ist das durchaus zulässig. Für die Erreichung der Umweltziele wäre es natürlich wünschenswert, dass alle ihre Hausaufgaben machen. Aber das Argument, nur verlangen zu dürfen, was man selbst einhält, ist rein politischer Natur.
Gerade mit Blick auf die Nachhaltigkeit werden zunehmend nicht nur der Anschaffungspreis beachtet, sondern auch die Kosten, die das Produkt über den gesamten Lebenszyklus bis zur Entsorgung verursacht. Wo werden Lebenszykluskosten respektive die Total Cost of Ownership (TCO) in einer Ausschreibung integriert?
Es gibt zwei Ansätze: Entweder als separates Zuschlagskriterium neben dem Preis oder unter dem Oberkriterium «Kosten», das dann in zwei Subkriterien «Anschaffungspreis» und «Total Cost of Ownership (TCO) oder Lebenszyluskosten» aufgeteilt wird. TCO-Berechnungen sind anspruchsvoll und setzen eine gewisse Erfahrung voraus.
Lebenszyklusanalysen beziehungsweise Umweltbilanzen gehen noch einen Schritt weiter: Sie bewerten nicht die Kosten eines Produkts, sondern dessen (ökologische) Auswirkungen auf Umwelt und Gesellschaft (Umweltwirkungen). Doch ist es sinnvoll, diese bereits heute auf der Kostenseite in Ausschreibungen zu integrieren?
Die rechtliche Grundlage, Umweltkosten im Sinne der Internalisierung von Externalitäten zu berücksichtigen, ist zwar vorhanden. Indessen gibt es noch keine allgemein anerkannte Formel. Besonders kleinen Gemeinden empfehle ich, relevante Faktoren wie Treibhausgas-Emissionen über Qualitätspunkte (für die bessere Emissionsbilanz) zu bewerten, anstatt umfassende, also über TCO hinausgehende Lebenszykluskosten einzupreisen.
Wie greifen technische Spezifikationen und Zuschlagskriterien ineinander?
Manche Gemeinden legen vor allem qualitative und ökologische technische Spezifikationen fest und bewerten im Rahmen der Ermittlung des vorteilhaftesten Angebots fast nur den Preis. Das bremst jedoch den Wettbewerb um die bessere Qualität. Das neue Vergaberecht ermutigt dazu, technische Spezifikationen und Zuschlagskriterien zum gleichen Thema miteinander zu kombinieren.
Technische Spezifikationen
Mindestanforderungen an das Produkt oder die Dienstleistung, die in jedem Angebot zwingend erfüllt sein müssen (z.B. Energieeffizienzklasse oder Vorgaben in Bezug auf das zu verwendende Material; Art. 30 BöB/IVöB). Die Nichterfüllung führt zum Ausschluss.
Zuschlagskriterien
Kriterien, nach denen die eingereichten Angebote bewertet und verglichen werden, um das vorteilhafteste Angebot zu bestimmen, das den Zuschlag erhält (Art. 41 BöB/IVöB). Der Zuschlag an das vorteilhafteste Angebot (Art. 41 BöB/IVöB) will die Bedeutung der Qualität gegenüber dem Preis erhöhen beziehungsweise den Qualitätswettbewerb fördern. Die Zuschlagskriterien beziehen sich in der Regel auf die Leistung und nicht auf den Anbieter (Ausnahme: Mehreignung). Die Kriterien müssen transparent definiert und gewichtet werden. Als Kriterien kommen zum Beispiel Preis, Lebenszykluskosten, Qualität, Umweltverträglichkeit, insbesondere Energieverbrauch, Langlebigkeit oder etwa die Belohnung von Fairtrade-Produkten in Frage (Art. 29 BöB/IVöB).
Haben Sie ein Beispiel?
Nehmen wir einmal an, eine Gemeinde will eine Baumaschine oder eine Wärmepumpe anschaffen. Sie könnte einen maximalen Lärmemissionswert als technische Spezifikation vorgeben und gleichzeitig im Rahmen der Zuschlagskriterien je nach Dezibel-Wert Punkte vergeben, wenn das angebotene Produkt diesen Wert übertrifft beziehungsweise bei Lärmwerten unterschreitet. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigt in seinem Urteil B-879/2020 vom 8. März 2021 (E. 6.4.3), dass dies keine unzulässige Doppelbewertung ist, sondern eine erwünschte gezielte Förderung von Qualität. Das wird auch kein kantonales Verwaltungsgericht anders sehen.
«Eine Beschaffungsstrategie oder eine Richtlinie zur nachhaltigen öffentlichen Beschaffung gibt Beschaffungsverantwortlichen Rückhalt.»
– Marc Steiner
Eine besondere Form der Zuschlagskriterien sind solche für Anbietende – auch Mehreignungskriterien genannt. Was hat sich mit dem neuen Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen (BöB) respektive der IVöB diesbezüglich geändert?
Grundsätzlich nichts. Bereits der amtlich publizierte Bundesgerichtsentscheid BGE 139 II 489 E. 4.2.2 besagt, dass Mehreignungskriterien in der Schweiz zulässig sind. Es handelt sich also um Zuschlagskriterien, die sich ausnahmsweise nicht auf das Produkt, sondern auf Anbieter:innen beziehen. Der Zwischenentscheid des Bundesverwaltungsgerichts B-5341/2024 vom 19. Dezember 2024 bestätigt diese Praxis und verdeutlicht, dass die Berücksichtigung der Mehreignung den Qualitätswettbewerb fördert und damit ein Ziel der Vergaberechtsreform unterstützt.
Mehreignungskriterien
Nicht produktbezogene Zuschlagskriterien, im Rahmen welcher (über die reine Eignungsprüfung hinausgehend) beispielsweise Punkte für Umweltmanagementsysteme vergeben oder die Qualifikation oder Erfahrung von Schlüsselpersonen bewertet wird. Solche Kriterien sind nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ausdrücklich zulässig (BGE 139 II 489 E. 4.2.2).
Bedeutet dies, dass man unabhängig vom Beschaffungsgegenstand Zuschlagskriterien formulieren kann, die sich auf die anbietenden Unternehmen und nicht aufs Produkt oder die beschaffte Dienstleistung beziehen?
Nein, Mehreignungskriterien müssen, wie Eignungskriterien auch, immer einen Bezug zum Auftrag haben. Anforderungen an das Unternehmen sollen also einen Einfluss auf die Herstellung oder die Qualität des Produkts oder der Dienstleistung haben. Ich beobachte aber, dass die Rechtsprechung nach neuem Recht den Auftragsbezug von Eignungskriterien grosszügiger beurteilt als zuvor. Das passt gut zur neuen Gesetzeslage, in der die Nachhaltigkeit explizit als Ziel verankert ist.
Eignungskriterien
Anforderungen an Anbietende, die sicherstellen, dass diese die Leistung fachlich, wirtschaftlich und personell erbringen können. Beispiele: Referenzprojekte, Schlüsselqualifikationen oder Umweltmanagementsysteme. Anbietende, die diese Kriterien nicht erfüllen, werden ausgeschlossen (Art. 27 BöB/IVöB).
Können Sie das näher erklären?
Das Bundesverwaltungsgericht hat beispielsweise entschieden, dass bei der Beschaffung von Baggerleistungen, das heisst der Überlassung von Maschinen mit Bedienpersonal, ISO 14001 als Eignungskriterium zulässig ist. Hier wurde demnach ein ausreichender Auftragsbezug anerkannt. Eine ISO 14001-Zertifizierung bestätigt ein funktionierendes Umweltmanagementsystem. Folgerichtig ist es auch möglich, die Tatsache, dass ein Unternehmen ein solches Zertifikat hat, im Rahmen eines entsprechenden Zuschlagskriteriums als Mehreignung zu belohnen.
«Eignungskriterien sind harte Ausschlusskriterien. Mehreignungskriterien hingegen führen zu mehr Punkten beim Zuschlagsentscheid.»
– Marc Steiner
Und wo ist das eher nicht sinnvoll?
Die Belohnung der Mehreignung macht vor allem bei Projekten von einer gewissen Komplexität Sinn. Beim Bezug von Büro- und Reinigungsmaterial von Zwischenhändler:innen und Import-Unternehmen sind vor allem die Eigenschaften des Produkts selbst relevant. Das spricht dafür, beispielsweise Zertifikate klassisch im Rahmen der Eignungsprüfung abzufragen.
Unterscheiden sich Eignungs- und Mehreignungskriterien inhaltlich?
Nein, beide Kriterientypen prüfen die Fähigkeit der Anbietenden, die Leistung in der geforderten Qualität zu erbringen. Und bei beiden ist ein direkter Bezug zum Auftragsgegenstand erforderlich. In der Wirkung gibt es aber einen klaren Unterschied. Eignungskriterien sind harte Ausschlusskriterien. Mehreignungskriterien hingegen fliessen weich in die Bewertung ein. Sie führen zu besseren Noten oder zu mehr Punkten beim Zuschlagsentscheid.
Müssen Mehreignungskriterien in Ausschreibungen gesondert aufgeführt werden?
Nein, das ist nicht nötig. Sie werden wie alle Zuschlagskriterien in der Gewichtungsmatrix der Ausschreibung integriert. Eine klare Erläuterung im Sinne von «Berücksichtigung der Mehreignung» hilft jedoch bei der Transparenz der Zuschlagskriterien. So verstehen die Anbietenden besser, dass und welche zusätzlichen Qualitäten oder Fähigkeiten positiv in die Bewertung einfliessen können.
Gemeinden fordern manchmal auch bei Einladungsverfahren Eignungskriterien. Welche nachhaltigkeitsorientierten Eignungskriterien können auch kleinere Gemeinden in diesem Zusammenhang problemlos an potenzielle Lieferant:innen stellen?
Die gängigsten Eignungskriterien sind Referenzprojekte, Schlüsselqualifikationen oder eine ISO 14001-Zertifizierung. Referenzprojekte oder Schlüsselqualifikationen zeigen, dass das Unternehmen über die notwendigen Kompetenzen verfügt und bereits vergleichbare nachhaltige Projekte umgesetzt hat.

«Je komplexer die Vergabe ist, desto niedriger wird der Preis gewichtet», so Marc Steiner.
Und jetzt noch eine Frage zur Gewichtung der Zuschlagskriterien: Welches Verhältnis sollten Qualitätskriterien zum Preis haben?
Bei einfachen Beschaffungen muss der Preis mindestens 60 Prozent gewichtet werden, bei komplexen mindestens 20 Prozent. Mit anderen Worten: Je komplexer die Vergabe ist, desto niedriger wird der Preis gewichtet. Der Begriff «das vorteilhafteste Angebot» (Art. 41 BöB) soll aber generell dazu ermutigen, den Preis tendenziell niedriger zu gewichten als bisher.
Ein zum alten Vergaberecht ergangener Bundesgerichtsentscheid im Urteil 2C_802/2021 vom 24. November 2022 besagt, dass die Vergabestelle einen Ermessensspielraum hat bei der Festsetzung der Preisgewichtung. Indessen ist bei einfachen ausgeschriebenen Leistungen bzw. einem fast schon standardisierten Produkt wie einem Handtuchspender eine Preisgewichtung von «nur» 50 Prozent rechtswidrig. Es muss eine Preisgewichtung von mindestens 60 Prozent gewählt werden. Bei einer komplexen Beschaffung, wie einer mobilen Anlage zur Klärung des Abwassers aus der Tunnelbaustelle des Monte Ceneri Basistunnels, hat das Bundesverwaltungsgericht eine Gewichtung von «nur» 30 Prozent als ohne Weiteres zulässig beurteilt. Nachzulesen ist dies im Urteil B-743/2007 vom 16. Dezember 2011 E. 2.2.3.3. Solche Beispiele helfen, die Spielräume auszuloten.
Zusammengefasst: Welche Kriterientypen sind für die nachhaltige Beschaffung besonders wichtig?
Das hängt ganz vom Beschaffungsgegenstand ab. Die relevanten Nachhaltigkeitsaspekte unterscheiden sich je nach Produktgruppe erheblich. Eine gute Orientierung bieten Instrumente wie die Relevanzmatrix des Bundesamts für Umwelt (BAFU) oder die Toolbox Nachhaltige Beschaffung Schweiz, beides auf der Wissensplattform nachhaltige öffentliche Beschaffung des Bundes. Gerade bei globalen Lieferketten wie beispielsweise bei Textilien kann die Wahl der Teilnahmebedingungen und der einschlägigen Nachweise – im Unterschied zu einer blossen Selbstdeklaration – einen grossen Unterschied machen. Wird nur das Minimum gefordert? Oder wird darüber hinaus die Einhaltung weiterer wesentlicher internationaler Arbeitsstandards betreffend Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz verlangt?
Teilnahmebedingungen
Eignungsunabhängige Mindestanforderungen, die alle Anbieter:innen zwingend erfüllen müssen, um überhaupt am Verfahren teilnehmen zu dürfen (zum Beispiel Verpflichtung zur Einhaltung von Umweltvorschriften; Art. 12 i.V.m. Art. 26 BöB/IVöB).
Mit ambitionierten Nachhaltigkeitskriterien in einer Ausschreibung haben Gemeinden einen wirkungsvollen Hebel. Sie können damit nicht nur ökologische, sondern auch soziale Standards entlang der gesamten Lieferkette stärken.
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