Gemeinde
Biodiversität
Fachartikel

«Die Ökologische Infrastruktur ist ein Mehrwert für Wirtschaft und Gesellschaft»

Priska Messmer
Landschaft mit Siedlungsrand, Hecken und Landwirtschaftsflächen.

·

7 Minuten Lesezeit

Biodiversität

Fachartikel

Um den Zustand der Biodiversität in der Schweiz zu verbessern, brauchen wir eine Ökologische Infrastruktur (ÖI), von der auch der Mensch profitiert. Sophie Rudolf, Projektleiterin Biodiversität und Raumplanung bei ecoinfra suisse, dem Kompetenzzentrum für Ökologische Infrastruktur, erklärt im Interview, was es mit der ÖI auf sich hat und worin sich der Ansatz von bisherigen Massnahmen unterscheidet.

Priska Messmer im Gespräch mit Sophie Rudolf

Der Begriff Ökologische Infrastruktur taucht oft im Zusammenhang mit der Biodiversitätsförderung auf. Was ist damit genau gemeint?

Sophie Rudolf: Eine Infrastruktur umfasst die grundlegenden Einrichtungen, die eine Gemeinschaft benötigt, um zu funktionieren – und das gilt für den Menschen gleichermassen wie für Tier- und Pflanzengemeinschaften. Die Ökologische Infrastruktur bezeichnet ein landesweites, zusammenhängendes Netz von ökologischen Flächen. Dazu gehören zum Beispiel blumenreiche Trockenwiesen oder dynamische Auenwälder. Die ÖI ermöglicht es den Tier- und Pflanzenarten, die in der Schweiz natürlicherweise vorkommen, sich zu entwickeln und auszubreiten, Nahrung und Lebensräume zu finden. Kurz gesagt stellt die Ökologische Infrastruktur sicher, dass mehr Flächen für die Biodiversität zur Verfügung stehen – und zwar Flächen, die eine höhere Qualität aufweisen und besser miteinander vernetzt sind. Und dies in einem ausreichenden Mass, damit das Überleben der Arten langfristig sichergestellt ist.

Sophie Rudolf

«Die Biodiversität ist lebenswichtig für uns. Und weil ihr Zustand in der Schweiz so schlecht ist, brauchen wir die Ökologische Infrastruktur.»

Sophie Rudolf, Projektleiterin ecoinfra suisse – Kompetenzzentrum Ökologische Infrastruktur

Nützt die Ökologische Infrastruktur auch den Menschen?

Absolut! Die Ökologische Infrastruktur ist ein Mehrwert für Wirtschaft und Gesellschaft. Wir Menschen sind komplett abhängig von den Ressourcen und Leistungen, die uns die Biodiversität zur Verfügung stellt. Die Ökologische Infrastruktur schafft und erhält die Lebensräume für die Lebewesen, die für uns Menschen direkt oder indirekt von Nutzen sind. Es gibt zum Beispiel viele Arten, die Schadstoffe und Krankheitserreger aus dem Wasser filtern und uns mit sauberem Trinkwasser versorgen. 30 Prozent der weltweiten landwirtschaftlichen Erträge hängen von der Bestäubung durch verschiedene Tierarten ab. In der Schweiz profitieren 5 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche von der Bestäubung durch Insekten. Betrachtet man nur das Ackerland, sind es sogar 14 Prozent. Für den Menschen sichert die Biodiversität zudem naturnahe Erholungsräume, stellt die Luftqualität sicher und schützt uns vor Naturgefahren, was aufgrund des Klimawandels immer wichtiger wird. Wir brauchen lebendige Wälder, die uns schützen und mit sauberer Luft versorgen. Die Biodiversität liefert uns auch Heilmittel. Weltweit werden 20'000 Arten pharmakologisch genutzt. Die Biodiversität ist schlicht lebenswichtig für uns. Und weil ihr Zustand in der Schweiz so schlecht ist, braucht es dringend eine Ökologische Infrastruktur.

Wie entsteht eine funktionierende Ökologische Infrastruktur? Wird sie vom Menschen designt?

Ja, genau. Naturschutzexpert:innen prüfen, welche ökologisch wertvollen Flächen bereits vorhanden sind und wo es Hindernisse gibt, die es zu beseitigen gilt. Und natürlich auch, wo es interessante Flächen gibt, die man aufwerten könnte, um mehr Raum für die Biodiversität zu schaffen, was dringend notwendig ist. Ganz gezielt, strategisch und überlegt. Die ÖI ist damit ein wichtiges Planungs- und Umsetzungsinstrument für alle drei staatlichen Ebenen: Bund, Kantone und Gemeinden.

Was bringt der Ansatz Neues für den Naturschutz?

Neu sind das strategische Denken, die langfristige Planung und die intersektorale Zusammenarbeit. Bis jetzt setzten die meisten Massnahmen im Naturschutz punktuell an. Der Fokus auf die Ökologische Infrastruktur ermöglicht ein sehr strategisches und analytisches Vorgehen. Dort, wo der Bedarf am grössten ist, plant man gezielt und etappenweise Massnahmen. Und dies für die ganze Schweiz, für alle Regionen und Kantone. Dabei sind nicht nur Naturschutzfachleute involviert, sondern auch Fachpersonen aus anderen Bereichen und Sektoren. So arbeiten zum Beispiel Mitarbeiter:innen des Werkhofes und des Naturschutzamtes Hand in Hand, um Strassen- und Bahnborde aufzuwerten und biodiversitätsfreundlich zu pflegen.

Wie kann die Ökologische Infrastruktur mittels Raumplanung gestärkt werden?

In der Schweiz sind die produktivsten landwirtschaftlichen Flächen sowie die wichtigsten Siedlungsgebiete und andere menschliche Infrastrukturen im Mittelland oder in den Alpen- und Juratälern konzentriert. Dies führt zu einem starken Wettbewerb um den Boden. Die Raumplanung hat zum Ziel, die konkurrierenden Bodennutzungen zu koordinieren und eine Interessenabwägung vorzunehmen. Dabei ist es wichtig, dass die Ökologische Infrastruktur in den Instrumenten der Raumplanung fest verankert ist. So können wir die Bedürfnisse der Biodiversität genauso berücksichtigen wie andere Landnutzungen.

«Die Kantone haben analysiert, wo es noch ökologische Flächen mit hoher Qualität gibt und wo es Ergänzungen, Vernetzungselemente und spezifische Massnahmen braucht.»

Sophie Rudolf, Projektleiterin ecoinfra suisse – Kompetenzzentrum Ökologische Infrastruktur

Wo steht die Umsetzung aktuell?

Im Moment sind Bund und Kantone noch am Abschliessen der ersten Planungsphase. Die Kantone haben im Auftrag des Bundes auf der Grundlage des Aktionsplans Biodiversität Schweiz eine Fachplanung für ihr Kantonsgebiet erstellt (siehe auch Artikel «Kantonale Fachplanungen als kommunales Werkzeug»). Dafür haben sie analysiert, wo es noch ökologische Flächen mit hoher Qualität gibt, wo es Ergänzungen, Vernetzungselemente und spezifische Massnahmen braucht. Erste Schritte in Richtung Umsetzung dieser kantonalen Fachplanungen sind aber bereits gestartet worden.

Und wie sieht es bei den Gemeinden aus?

Einzelne Gemeinden verfügen bereits über eigene Planungen. Die Federführung liegt jedoch bei den Kantonen und der Einbezug der Gemeinden ist noch nicht in allen Kantonen ausreichend konkretisiert. Die kantonalen Fachplanungen liefern eine Rahmenplanung und wichtige Anknüpfungspunkte, auf denen die Gemeinden aufbauen und die sie ergänzen und konkretisieren können. Da die Gemeinden in der Regel über wichtige zusätzliche lokale Daten und Ortskenntnisse verfügen, ist ihre Mitarbeit für den Aufbau einer funktionierenden ÖI von grosser Bedeutung. Das bisherige Biodiversitätsengagement der Gemeinden kann so in die kantonale Planung integriert und damit strategischer ausgerichtet werden. So lassen sich Synergien besser nutzen.

«Es braucht dringend mehr blaue und grüne Flächen in Städten und Gemeinden, die nicht nur die biologische Vielfalt fördern, sondern auch dazu beitragen, dass es in der Umgebung nicht zu heiss wird und die Entwässerung besser funktioniert.»

Sophie Rudolf, Projektleiterin ecoinfra suisse – Kompetenzzentrum Ökologische Infrastruktur

Welche Synergien gibt es bei dem Thema?

Beispielsweise ergeben sich enorme Synergien mit Massnahmen zur Anpassung an den Klimawandel. Hier sind die Gemeinden momentan stark gefordert. Sie haben Probleme mit Überschwemmungen, hohen Temperaturen und Dürreperioden. Es braucht dringend mehr blaue und grüne Flächen in Städten und Gemeinden, die nicht nur die biologische Vielfalt fördern, sondern auch dazu beitragen, dass es in der Umgebung nicht zu heiss wird und die Entwässerung besser funktioniert. Der Ausbau der Ökologischen Infrastruktur kann hier helfen (siehe auch Artikel «Grün-blau-bunt: Regenwasser als Grundlage für biodiverse Siedlungsräume»).

ecoinfra suisse ‒ ein Kompetenzzentrum für die Ökologische Infrastruktur

ecoinfras suisse setzt sich für den Aufbau einer funktionierenden Ökologischen Infrastruktur (ÖI) als zentrales Instrument zur Sicherung der Biodiversität und somit der Ökosystemleistungen in der Schweiz ein. Das Kompezenzzentrum erarbeitet und verbreitet fachliche Grundlagen, Merkblätter und Arbeitshilfen für Bund, Kantone, Gemeinden, Verbände und die breite Öffentlichkeit.


Beitrag teilen

Artikel als PDF herunterladen

Über diesen Button wird das Druckmenü aufgerufen. Wählen Sie «Als PDF speichern», um den Beitrag als PDF herunterzuladen.