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6 Irrtümer in der nachhaltigen Beschaffung – ein Realitäts-Check

Nadine Siegle
Ein Mann und eine Frau sprechen über Dokumente, die auf dem Tisch liegen.

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13 Minuten Lesezeit

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Ist regional wirklich nachhaltig? Ist ein nachhaltiges Produkt immer die beste Lösung? Rund um die nachhaltige Beschaffung kursieren viele Vorurteile und Missverständnisse. Wir räumen mit den häufigsten Irrtümern auf.

Zugegeben, die nachhaltige Beschaffung kann herausfordernd sein. Doch das heisst nicht, dass sie zum Stolperstein werden muss. Wer sich von diesen sechs Irrtümern verabschiedet, bringt frischen Wind in den nachhaltigen Einkauf der eigenen Gemeinde:

Irrtum #1: Nachhaltige Produkte sind die nachhaltigste Lösung

Das stimmt nicht ganz: Die nachhaltigste Lösung ist, nichts Neues anzuschaffen. Das schont die Ressourcen am meisten. Aber wann ist das überhaupt eine Option?

«Am Anfang jedes Beschaffungsprozesses steht eine Bedarfsanalyse. Wer etwas einkauft, muss den eigenen Bedarf kennen – das ist erstmal ganz unabhängig von der Nachhaltigkeit», sagt Olivia Bolliger, Projektleiterin Nachhaltige öffentliche Beschaffung bei Pusch. Eine fundierte Bedarfsanalyse biete anschliessend auch die Chance, Ressourcen zu sparen. «Wir empfehlen, die Alternativen zu einem Neukauf im Rahmen der Bedarfsanalyse mitzuberücksichtigen.»

  • Könnte das Produkt Occasion gekauft werden?

  • Ist ein Sharing-Modell eine Option?

  • Oder gibt es ein altes Produkt, das man wiederaufbereiten könnte?

Zu diesen Fragen regt auch Sabine Oberhuber an. Sie ist Ökonomin und Mitgründerin von Turntoo, einem Unternehmen, das sich auf den Übergang zur Kreislaufwirtschaft konzentriert. Sie betont: «Mit der Frage nach dem Bedarf findet man heraus, ob man etwas wirklich braucht oder ob man es vielleicht nur einkauft, weil die Prozesse schon lange so laufen. Da fallen bereits wichtige Entscheide, wenn man zum Schluss kommt, dass man etwas doch nicht oder noch nicht braucht oder möglicherweise etwas Bestehendes reparieren oder wiederaufbereiten kann.»

Lesetipps: Artikel über die Alternativen zum Neukauf

Damit befinde man sich in den berühmten R-Strategien der Kreislaufwirtschaft bei «Refuse» und «Rethink», erklärt Oberhuber (siehe Box). Darauf folgen «Reuse» und «Repair» als wichtige Alternativen zum Neuprodukt (siehe Interview «Nicht das Produkt, sondern der Bedarf sollte im Zentrum stehen»).

Die R-Strategien der Kreislaufwirtschaft

Die sogenannten R-Strategien (abgeleitet vom Präfix «re-») lassen sich in 3 Gruppen unterteilen:

Intelligente Herstellung und Nutzung

  • R0 Refuse – Ablehnen: Verzicht auf Materialien und Produkte

  • R1 Rethink – Umdenken: Produkte intensiver nutzen durch Teilen, Multifunktionalität oder neue Anwendungsarten.

  • R2 Reduce – Reduzieren: Ressourceneffizienz steigern durch eine effiziente Herstellung und Nutzung von Produkten.

Verlängerte Lebensdauer von Produkten und Produktteilen

  • R3 Reuse – Wiederverwenden: Die Lebensdauer von funktionsfähigen Produkten verlängern durch Wiederverwendung in der ursprünglichen Funktion durch eine:n andere:n Nutzer:in.

  • R4 Repair – Reparieren: Die Lebensdauer von defekten Produkten verlängern durch Wartung und Reparatur.

  • R5 Refurbish – Auffrischen: Wiederaufbereitung von veralteten Produkten zum Zweck der Wiederverwendung und -vermarktung.

  • R6 Remanufacture – Wiederherstellen: Funktionierende Teile von nicht mehr genutzten Produkten in anderen Produkten einsetzen.

  • R7 Repurpose – Umfunktionieren: Produkte, die nicht mehr genutzt werden oder deren Teile in neuen Produkten mit anderer Funktion wieder einsetzen.

Nützliche Verwertung von Materialien

  • R8 Recycle – Wiederverwerten: Stoffliche Verwertung von Materialien als neuer Rohstoff in höchstmöglicher Qualität wieder in den Materialkreis zurückführen.

  • R9 Recover – Rückgewinnen: Energie aus der Verbrennung von Abfällen sowie Wertstoffen aus deren Verbrennungsrückständen rückgewinnen.

Irrtum #2: Regional ist nachhaltig

Regional kann nachhaltig sein, muss es aber nicht. Die Regionalität allein sagt noch nichts darüber aus, ob ein Produkt nachhaltig ist. Denn die Nachhaltigkeit umfasst drei Dimensionen, die ...

  • ökonomische,

  • ökologische und

  • soziale Nachhaltigkeit.

Sowohl regionale Produkte als auch solche mit längeren Transportwegen können die drei Dimensionen der Nachhaltigkeit erfüllen – oder eben auch nicht.

Übrigens: In Ausschreibungen ist Vorsicht geboten, wenn man ein regionales Produkt einkaufen möchte.

Maria-Luisa Kargl

«Die Ausschreibung darf nicht markteinschränkend sein. Deshalb kann das Kriterium der Regionalität rechtlich problematisch sein.»

Maria-Luisa Kargl, Projektleiterin Nachhaltige öffentliche Beschaffung und Labels, Pusch

Irrtum #3: Nachhaltig einzukaufen ist teurer

Die nachhaltige Beschaffung fokussiert auf eine möglichst lange Nutzung von Produkten und Materialien. «Eine fundierte Abklärung des Bedarfs zu Beginn eines Beschaffungsprozesses bietet die Chance, nicht nur die Klima- und Umweltbelastung zu minimieren, sondern auch die Kosten zu senken», betont Olivia Bolliger.

Sparpotenzial ergibt sich beispielsweise, wenn sich nach der Bedarfsanalyse eine Occasion-Anschaffung oder eine Wiederaufbereitung anbietet (siehe Irrtum #1). Genauso aber auch, wenn beim Entscheid für einen Neukauf ein Augenmerk auf die Langlebigkeit oder das kreislauffähige Design des Produkts gelegt wird:

Olivia Bolliger, Projektmitarbeiterin Nachhaltige öffentliche Beschaffung, Pusch

«Wer bereits in der Ausschreibung respektive beim Einkauf auf einfach reparierbare und langlebige Produkte setzt, spart langfristig.»

Olivia Bolliger, Projektleiterin Nachhaltige öffentliche Beschaffung, Pusch

Wichtig ist, nicht nur den Einkaufspreis zu berücksichtigen, sondern auch die Kosten während der Nutzung und später der Entsorgung, also die Gesamtbetriebskosten (auch Total Cost of Ownership (TCO) genannt).

Die Gesamtbetriebskosten sind typischerweise bei der Fahrzeugbeschaffung ein Thema. Zum Beispiel, wenn es um die Frage geht, ob es ein Fahrzeug mit fossilem oder mit Elektroantrieb sein soll. Die Anschaffungskosten von Nutzfahrzeugen mit Elektroantrieb seien zwar fast doppelt so hoch wie bei herkömmlichen Verbrennern, berichtet Reto Loosli, Leiter Entsorgung und Umwelt in Illnau-Effretikon. Doch wenn man die Gesamtbetriebskosten (TCO) über die Lebensdauer eines Fahrzeugs betrachte, ergebe der Elektroantrieb durchaus Sinn (siehe Praxisbeispiel «Illnau-Effretikon: Pragmatisch zur nachhaltigen Beschaffung»).

Es lohnt sich aber nicht nur bei Fahrzeugen, die Gesamtbetriebskosten zu betrachten, sondern bei sämtlichen Einkäufen. Denn spätere Kosten im Betrieb belasten das Portemonnaie ebenso, auch wenn sie verwaltungsintern möglicherweise über ein anderes Budget laufen als der Einkauf.

Bei der Beschaffung von Mobiliar zum Beispiel können Beschaffende prüfen, ob Einzelteile von Bürostühlen oder Tischen bei Bedarf ersetzt werden könnten, wenn sie abgenutzt sind oder auch mal kaputt gehen. «Ein hochwertiges, gut reparierbares Produkt ist beim Kauf vielleicht teurer. Aber das rechnet sich über die gesamte Lebenszeit», ist Olivia Bolliger überzeugt.

Lesetipps zum Irrtum #3

  • Die kreislauffähige Beschaffung zeichne sich durch tiefere oder gleich hohe Gesamtkosten im Vergleich zur linearen Beschaffung aus, schreibt Antonia Stalder von Prozirkula in ihrem Artikel: Im Kreislauf denken und Ressourcen schonen

  • «Unter Berücksichtigung der Total Cost of Ownership (TCO) sind hochwertige, langlebige und ressourcenschonende Produkte oft günstiger», betont auch Sibyl Anwander in ihrem Artikel: Globale Nachhaltigkeitsziele, lokale Umsetzung

  • Viele Städte und Gemeinden setzen mittlerweile auf Elektromobilität. Dabei spielen nicht nur die Anschaffungskosten eine Rolle, sondern die Kosten über die gesamte Nutzungsdauer. So auch in Winterthur, wo alle städtischen Fahrzeuge bis zum Jahr 2028 fossilfrei betrieben werden sollen: Winterthur will 100 Prozent elektrisch fahren

Irrtum #4: Nachhaltige Beschaffung ist «nice to have»

Die nachhaltige Beschaffung betrifft alle Staatsebenen. Spätestens seit der Revision des Beschaffungsrechts ist sie nicht mehr nur «nice to have»: Seither soll nämlich nicht mehr das günstigste Angebot den Zuschlag erhalten, sondern das vorteilhafteste. Das hat Auswirkungen auf den Qualitätswettbewerb und gibt Nachhaltigkeitsüberlegungen gleichzeitig mehr Raum.

«Weiter machen wie bisher, ist keine Option mehr. Früher oder später müssen sich alle Schweizer Gemeinden mit der Nachhaltigkeit in ihrem Einkauf beschäftigen. Je früher sie das tun, desto besser», betont Maria-Luisa Kargl.

Weitere Gründe dafür, dass die nachhaltige Beschaffung nicht nur «nice to have» ist:

  • Internationaler Rahmen: Die Schweiz hat sich mit der Unterzeichnung der Agenda 2030 der UNO dazu verpflichtet, ihr Handeln auf die UNO-Nachhaltigkeitsziele auszurichten. In den 17 Sustainable Development Goals (SDGs) wird die nachhaltige Beschaffung unter SDG 12.7 ausdrücklich als Mittel erwähnt, um die nachhaltige Entwicklung und die Erreichung der Ziele voranzutreiben.

  • Nationale Verankerung: In der Bundesverfassung (BV) ist die Nachhaltigkeit verankert. Artikel 2 der BV, der sich dem Zweck der Schweiz widmet, spricht ausdrücklich von der nachhaltigen Entwicklung und der dauerhaften Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen. Artikel 73 der BV vertieft den Begriff der Nachhaltigkeit weiter und hält fest, dass Bund und Kantone «ein auf Dauer ausgewogenes Verhältnis zwischen der Natur und ihrer Erneuerungsfähigkeit einerseits und ihrer Beanspruchung durch den Menschen andererseits» anstreben.

Das Beschaffungsvolumen der öffentlichen Hand ist riesig. Gemeinden, Kantone und Bund kaufen jährlich Güter, Dienstleistungen und Bauten im Umfang von 41 Milliarden Franken ein. Den Grossteil dieser Einkäufe tätigen Gemeinden und Kantone. Entsprechend gross ist der Hebel im öffentlichen Einkauf, um eine nachhaltige Entwicklung zu fördern.

Irrtum #5: Nachhaltige Beschaffung ist zu kompliziert

Ja, das Beschaffungswesen kann für sich schon komplex sein. Es ist gerade für kleinere und mittlere Gemeinden aus Ressourcengründen häufig eine Herausforderung. Da soll obendrauf noch das facettenreiche Thema der Nachhaltigkeit berücksichtigt werden? Nicht gerade einfach. Doch die gute Nachricht ist:

«Nachhaltige Beschaffung bedeutet nicht, dass man von 0 auf 100 sofort perfekt nachhaltig einkaufen muss. Auch mit kleinen Schritten ist schon viel gewonnen.»

Maria-Luisa Kargl, Projektleiterin Nachhaltige öffentliche Beschaffung und Labels, Pusch

Wer nachhaltig beschaffen möchte, muss sich genauer mit der Frage auseinandersetzen, was aus welchem Grund eingekauft werden soll (siehe Irrtum #1). Das ist aber für sich noch kein Mehraufwand: «Die Anforderungen an ein neues Produkt oder eine Dienstleistung müssen ohnehin definiert werden. Das gehört zu jeder Beschaffung», ergänzt Olivia Bolliger. In diesem Schritt auch noch Überlegungen zur Nachhaltigkeit anzustellen, könne initial ein Zusatzaufwand sein und brauche etwas Übung und Erfahrung. Doch es gibt viele Hilfsmittel, die dabei unterstützen.

Hilfsmittel

Toolbox nachhaltige Beschaffung Schweiz: In der Toolbox finden Beschaffungsverantwortliche kostenlos die wichtigsten Informationen und juristisch geprüfte Nachhaltigkeitskriterien für verschiedene Produktgruppen. Insgesamt 19 Merkblätter helfen beim Einkauf der relevantesten Produkte. Die Merkblätter zeigen die ökologischen und sozialen Risiken der jeweiligen Produktgruppe auf, bieten spezifische Empfehlungen für die Ausschreibung und enthalten Beschaffungskriterien, die sich als Textbausteine für die Ausschreibung eignen.

Wissensplattform nachhaltige öffentliche Beschaffung WöB: Auf der WöB finden Beschaffende kompakt an einem Ort Informationen und Instrumente, die von Beschaffungsstellen und Fachpersonen aller föderalen Ebenen bereitgestellt und genutzt werden.

TRIAS – Leitfaden für öffentliche Beschaffungen: Der Leitfaden richtet sich an Praktiker:innen der Verwaltungsstellen sowie weitere dem öffentlichen Beschaffungsrecht unterstehenden Auftraggeber:innen. Er hilft bei der reibungslosen Beschaffung sämtlicher Beschaffungsgegenstände (siehe Erklärvideo).

«Langfristig zahlt sich dieser anfängliche Zusatzaufwand ganz klar aus. Produkte, die langlebig und einfach zu reparieren sind, führen im Betriebsalltag zu weniger Störungen, vereinfachen Wartung und Reparaturen und sparen dadurch Zeit und Kosten», sagt Olivia Bolliger (siehe auch Irrtum #3).

Wer ausserdem klare Verhältnisse schafft, vereinfacht den Beschaffungsprozess. «Wir empfehlen Gemeinden, Beschaffungsrichtlinien zu erarbeiten. Sie vereinfachen den Einkaufsverantwortlichen die Arbeit, da sie nicht für jede Beschaffung wieder neue Kriterien finden müssen», erklärt Maria-Luisa Kargl. Eine Richtlinie ist nicht nur eine politische Legitimation. Sie schafft auch mehr Klarheit für alle: Abgestimmte Formulierungen und ein gemeinsames Verständnis darüber, was gilt, sorgt für einen reibungslosen Beschaffungsprozess und ist sowohl für Beschaffende als auch für Anbietende eine Absicherung.

Lesetipps zu Beschaffungsrichtlinien

Wenn eine Richtlinie im ersten Moment zu aufwendig wirkt, gibt es aber auch andere Möglichkeiten, die nachhaltige Beschaffung zu verankern und zu fördern, wie zum Beispiel mit Checklisten oder einem Leitbild. Letzteres hat die Gemeinde Küsnacht (ZH) eingeführt. Christian Arber, Projektleiter Energie und Umwelt in Küsnacht, berichtet im Praxisbeispiel «Nachhaltig beschaffen ohne Richtlinie» von den Erfahrungen der Gemeinde.

Absichtserklärungen, Checklisten oder Leitbilder können ein Anfang sein. Damit nachhaltige Beschaffung aber nicht nur ein guter Vorsatz bleibt, braucht es langfristig verbindliche Grundlagen. Doch keine Sorge, auch hier gilt: Schritt für Schritt. Die Beschaffung ist ein fortlaufender Prozess, der immer wieder überprüft und weiterentwickelt werden kann und sollte. Zu Beginn lautet die Devise:

«Hauptsache die Gemeinde beginnt, sich mit der nachhaltigen Beschaffung auseinanderzusetzen. Auch kleine Schritte sind schon gut!»

Maria-Luisa Kargl, Projektleiterin Nachhaltige öffentliche Beschaffung und Labels, Pusch

Irrtum #6: Ohne Erfahrung fängt man bei Null an

Wer sich an die nachhaltige Beschaffung herantastet, muss das Rad nicht neu erfinden. Viele Gemeinden sind mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert und beschäftigen sich mit Lösungen.

Thomas Marti, Leiter Energie und Verkehr in Muri bei Bern

«Im hektischen Alltag geht oft das Naheliegendste vergessen: Bei anderen Gemeinden zu spicken, ist erlaubt.»

Thomas Marti, Leiter Umwelt und Verkehr, Muri bei Bern

Es lohnt sich, den regionalen Austausch zu nutzen und gleichzeitig auch das Gespräch mit Gemeinden ähnlicher Grösse aus anderen Regionen zu suchen. Webinare und Kurse, wie zum Beispiel der Tageskurs «Öffentliche Beschaffung nachhaltig und rechtskonform gestalten» am 3. November 2025 von Pusch, bieten eine gute Gelegenheit für den Erfahrungsaustausch.

Beispiele aus der Praxis

In unserer Praxiskarte finden Sie gute Beispiele aus anderen Gemeinden. Lassen Sie sich davon inspirieren. Kontaktieren Sie bei Fragen unsere Pusch-Beschaffungsexpertinnen oder die Ansprechpersonen aus den Praxisbeispielen.


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